Der Gefangene

John Grisham (Die Firma) ist bekannt für seine Thriller, welche sich schwerpunktmäßig mit dem US-Justizsystem befassen oder selbiges als Aufhänger nutzen. Zahlreiche seiner fiktiven Erzählungen wurden bereits von Hollywood verfilmt (u.a. Die Jury, Der Klient). Mit Der Gefangene wagte sich der ehemalige Rechtsanwalt und ehemalige Abgeordnete der Demokratischen Partei zum ersten Mal an eine reale Geschichte. Die Geschichte des Ronald Williamson, welcher über ein Jahrzehnt unschuldig im Gefängnis, davon die meiste Zeit im Todestrakt, inhaftiert wurde und auf seine Hinrichtung wartete. Das Ergebnis ist eine kontrovers diskutierte Mischung aus Thriller und Sachbuch, die einen bedrückenden Einblick in die Schattenseiten der US-Justiz gewährt.

    

Im Dezember 1982 wird eine junge Frau grausam vergewaltigt und ermordet. Das Verbrechen versetzt die Kleinstadt Ada im US-Bundesstaat Oklahoma in helle Aufregung. Nach stockenden Ermittlungen scheint der Schuldige endlich gefunden zu sein. Ronald Williamson wird der Tat bezichtigt und schlussendlich vor Gericht gestellt. Williamson, einst ein vielversprechendes Baseball-Talent, ist mittlerweile völlig aus der Bahn geraten. Nachdem seine Baseball-Karriere verletzungsbedingt ein jähes Ende findet, stürzte er total ab, konsumierte Alkohol und Drogen in geraumen Mengen. Zudem leidet er an psychischen Problemen infolge des Drogenkonsums. Kurzum: Williamson ist der perfekte Täter. Und so wird er in einem Prozess, zusammen mit seinem Bekannten und vermeintlichen Mittäter Dennis Fritz, auf Basis von äußerst fragwürdigen Beweisen und Ermittlungsergebnissen von der Jury für schuldig befunden. Ronald Williamson wird zum Tode verurteilt. Trotz der höchst fragwürdigen Beweislage und Ermittlungsfehlern, welche zunehmend ans Licht kommen, gelingt es den Angehörigen von Williamson erst nach elf Jahren, seine Freilassung aus dem Todestrakt zu erwirken.

Fehler, Unzulänglichkeiten und Staatsversagen

Das US-Justizsystem gilt gemeinhin als fehleranfällig und Urteile hängen bisweilen gefährlich stark von den finanziellen Ressourcen der Angeklagten ab. Teils mag diese Kritik zutreffen, teils ist sie überzogen und verallgemeinernd. Auch die Todesstrafe kann kontrovers diskutiert werden. Wenn jedoch eine Person wie John Grisham, der das Justizsystem der USA über Jahrzehnte hinweg kennengelernt hat, sich über einen Justizirrtum zutiefst erschüttert und fassungslos zeigt, lässt dies aufhorchen. So deckt Grisham in seinem Buch teils haarsträubendes Behördenversagen auf, welches erst zu der Verurteilung Williamsons führte. Einiges mag sich mit den beschränkten wissenschaftlichen Möglichkeiten der 80er-Jahre erklären lassen. So war zu dieser Zeit eine DNA-Analyse beispielsweise noch nicht möglich. Der Rückgriff auf ungenauere Beweismittel wie Lügendetektoren oder Haaranalysen scheint daher entschuldbar. Allerdings schlüsselt Grisham minutiös auf, dass diese Beweismittel bereits damals heftig umstritten waren, was jedoch von Polizei, Staatsanwaltschaft und den zuständigen Gerichten ignoriert wurde. Mehr noch: Durch Mammutverhöre wurden Geständnisse erzwungen und Aussagen zurechtgebogen.

Kurzum: Der Fall Ronald Williamson ist eine Kette schwerer Versäumnisse und bisweilen vorsätzlichen Fehlverhaltens der ermittelnden Polizei und des zuständigen Staatsanwalts Bill Petersen. Anstatt in alle Richtungen zu ermitteln und auch andere Täter weiterhin in Betracht zu ziehen, – so wurde beispielsweise der tatsächliche Täter sogar polizeilich vernommen –  schießen sich die Behörden vorschnell auf Williamson und Dennis Fritz ein. Williamson spiegelt aufgrund seiner Alkohol-, Drogen- und Gewaltprobleme den Idealtypus eines Gewaltverbrechers wider. So werden die Ermittlungen einseitig geführt, um der Öffentlichkeit, nachdem Williamson in den Fokus gerückt ist, möglichst schnell einen Schuldigen zu präsentieren. Einen Schuldigen, bei dem sich jeder sagt: “Hab ich’s doch gewusst! Der kam mir schon immer nicht ganz koscher vor.” Das Problem ist nur, dass Ronald Williamson eben nicht der Täter ist. So ist Der Gefangene nicht nur eine Anklage gegen schlampig arbeitende Behörden sondern auch ein Weckruf an die Gesellschaft, sich von Stereotypen zu lösen und einen Menschen nicht vorschnell zu verurteilen.
Jedoch erschöpfen sich Grishams Beschreibungen nicht nur in dem fragwürdigen Gerichtsverfahren. Vielmehr widmet er sich auch intensiv den unmenschlichen Haftbedingungen in den Todeszellen der 90er-Jahre. Karge, enge Zellen, kaum Tageslicht, kaum Beschäftigungsmöglichkeiten für die Gefangenen, kaum soziale Kontakte und übermäßiger, unkontrollierter Einsatz von Medikamenten mit teils gravierenden Nebenwirkungen. Grishams Beschreibungen der Haftbedingungen ähneln erschreckend den Bedingungen in Haftlagern wie man sie aus grausamen Diktaturen kennt. Man kann also gut nachvollziehen, dass solche Haftbedingungen einen Menschen in den Wahnsinn treiben können. Vor allem wenn er wie Ronald Williamson bereits mit psychischen Vorerkrankungen zu kämpfen hat und weiß, dass er unschuldig ist.

Intensiver Umgang mit der Hauptfigur

Originaltitel The Innocent Man
Ursprungsland USA
Jahr 2006
Typ Sachbuch
Genre Tatsachenbericht, Biographie
Autor John Grisham
Verlag Heyne Verlag

Grisham entscheidet sich bewusst dafür, Williamson nicht zum tragischen Helden zu glorifizieren. Vielmehr stellt er den Menschen Williamson sehr realitätsnah dar. Mit all seinen Fehlern und Schwächen. Somit schafft er zum einen Zugang zu dessen schwierigem Charakter, zum anderen wird so deutlich, weshalb Williamson für die Ermittlungsbehörden einen so guten Täter abgab und sie sich in der Folge auf ihn einschossen. Bei aller Distanz, die Grisham dabei zu der Figur zu wahren versucht, scheint jedoch immer wieder durch, wie hoch emotional den Autor selbst das Schicksal des Gefangenen berührt, so dass Grisham diese Distanz zu der Figur nicht durchgängig wahren kann. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Thriller und Sachbuch, welche bei Kritikern und Leserschaft auf ein geteiltes Echo stößt. Klassische Unterhaltungsliteratur ist Der Gefangene damit definitiv nicht mehr. Aber eben auch kein ganz gewöhnliches Sachbuch.
Indem Grisham Williamsons Werdegang vom vielversprechenden Sporttalent hin zum Drogenwrack beschreibt, macht er es dem Leser nicht leicht, Williamson zu mögen. Der Effekt ist aber nicht ungewollt, denn so wird dem Leser auch vor Augen geführt, wie schnell man mit Vorverurteilungen aufgrund von Stereotypen und den vergangenen Taten eines Menschen bei der Hand ist. Auch räumt Grisham in dem Buch Raum für die Familie, Freunde und Bekannte von Williamson ein, welche unentwegt für seine Freilassung kämpfen. So vermittelt er einen Eindruck, was für eine Belastung es für die Familie gewesen sein muss, den Kampf gegen die bürokratischen Windmühlen nicht aufzugeben. Jedoch liegt der Schwerpunkt auf Williamson und dem, was er in der Haft erleiden muss. Dabei versucht Grisham möglichst genau nachzuzeichnen, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass sich Williamsons Körper- und Geisteszustand während der Inhaftierung in der Todeszelle drastisch verschlechtert hat.  Schlussendlich wurde der wahre Mörder zwar noch gefasst, zu lebenslanger Haft verurteilt und Williamson freigelassen. Allerdings erst nachdem sich renommierte Bürgerrechtler des Falles annahmen und den Druck auf die Behörden erhöhten, sowie Williamson juristisch unterstützten. Dennoch wurde Williamsons Hinrichtung zwischenzeitlich bereits angesetzt und erst kurzfristig aufgrund eines erfolgreichen Habeas corpus-Antrags (Antrag auf Haftprüfung) wieder ausgesetzt. Zwar wurde Williamson am Ende nach über einem Jahrzehnt in der Todeszelle wieder freigelassen und finanziell entschädigt, jedoch hatte er nicht mehr allzu viel von seiner zurückgewonnenen Freiheit. Wohl auch aufgrund der Medikamente, welche ihm in der Haft verabreicht wurden, erkrankte dieser an Leberzirrhose und starb fünf Jahre nach seiner Haftentlassung.

Politische Brisanz – heute mehr denn je

Zwar ist Grishams Buch eigentlich als Anklage gegen die handelnden Personen in Justiz -und Polizeibehörden, von denen die wenigsten Konsequenzen aus dem Fall ziehen mussten oder auch nur ihre Fehler öffentlich eingestanden haben, konzipiert. Es ist jedoch auch ein klares Statement gegen die Todesstrafe. Die Republikaner unter George W. Bush hielten zur Zeit der Veröffentlichung des Buches trotz der zahlreichen aufgedeckten Fehlurteile an der irreversiblen Todesstrafe fest. Auch wenn Bush mittlerweile längst Geschichte ist, hat das Thema durch den glühenden Befürworter der Todesstrafe Donald Trump nichts an seiner grundlegenden Bedeutung verloren. Damit ist auch das Buch von John Grisham mit seiner Kritik an der Todesstrafe nach wie vor brandaktuell. Auch weil sich zudem an der Problematik von voreingenommenen Ermittlungsbehörden und Justizorganen, welche sich bisweilen von der öffentlichen Meinung und nicht von der tatsächlichen Faktenlage treiben lassen, in Zeiten von Fakenews und alternativen Fakten nichts geändert hat. Vielmehr scheint aufgrund der sozialen Medien eine noch größere Einflussnahme der öffentlichen Meinung auf Ermittlungen zu befürchten. Ein Problem, das sich im Übrigen nicht auf die USA beschränkt. So muss sich der Leser die Frage stellen, inwieweit die Öffentlichkeit mit ihrem Bedürfnis, möglichst schnell einen Schuldigen hängen zu sehen, ihren Anteil daran hat, was Ron Williamson widerfahren ist. Am Ende muss sich jeder Leser selbst hinterfragen, ob nicht auch er selbst nach einem Schuldigen, der in das gängige Täterprofil passt, geschrien hätte. Keine besonders angenehme Frage.

Der Gefangene ist sicherlich nicht so massentauglich wie viele Grishams anderer Bücher, auch wenn sich das Buch insgesamt recht gut verkauft hat. Dadurch, dass Grisham stilistisch Thriller und Sachbuch miteinander kombiniert, schafft er jedoch ein höchst interessantes literarisches Werk, auf das man sich als Leser allerdings einlassen muss. So fehlt es hier an Spannung und Tempo eines klassischen Thrillers. Dafür ist Der Gefangene jedoch tiefgründiger und entwickelt durch die genaue Recherche und Aufbereitung der Faktenlage durchaus einen Sog. Daher hat mir der Roman auf seine Art auch ausgesprochen gut gefallen und ich konnte ihn kaum noch aus der Hand legen. Neben seinen berühmten Meisterwerken liefert Grisham auch immer wieder eher durchschnittliche Thriller ab. Daher ist dieser Stilwechsel eine erfrischende Abwechslung zu Grishams sonstigen Romanen. Mich hat das Buch zudem zum Nachdenken angeregt. Gerade das Problem der Vorverurteilung durch die Öffentlichkeit und in Folge dessen durch die Gefahr einer Einflussnahme auf die Ermittlungen und Gerichtsverfahren ist heute so aktuell wie eh und je. Der Gefangene ist daher nicht nur für Grisham-Fans ein echter Geheimtipp.

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Atticus

Atticus ist Jura-Student. Er verbringt seine Freizeit am liebsten zusammen mit Freunden oder draußen in der Natur. Darüber hinaus ist Atticus ein großer Filmfan, jedoch nicht allzu wählerisch, so dass es kaum ein Genre gibt, dem er nicht zugeneigt wäre. Auch macht es ihm nichts aus, wenn ein Film ein paar Jährchen auf dem Buckel hat. Außerdem liest Atticus gerne Romane. Wenn möglich Krimis, Thriller, Horror- oder Abenteuerliteratur. Aber zwischendurch darf es auch gerne einmal etwas ausgefalleneres sein.

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