Wild: Sie hören dich denken
Nur mal kurz mit einem Baseballschläger die Glasfront einer Bank zerdeppert und zack – wird man zu Sozialarbeit in einem Camp verdonnert. Na wunderbar. Sechs Wochen in der Einöde, wo einen niemand schreien hört und man hoffentlich „zu einem besseren Menschen“ wird. Doch was ist, wenn man die Kontrolle verliert und sich irgendwie mehr verändert als einem lieb ist – weit über den „besseren Menschen“ hinaus? Diese Frage behandelt Wild: Sie hören dich denken, das neuste Buch von Ella Blix. Hinter diesem sibyllinischen Namen verbirgt sich das Autorinnen-Duo Antje Wagner und Tania Witte. Zwei Frauen, die für realistische Mystik stehen und diesem Ruf auch in Wild mehr als gerecht werden.
Noomi, Flix, Ryan und Olympe kennen einander nicht, verfügen aber bereits über eine Gemeinsamkeit: Sie alle haben es verbockt. Statt aber in einer Strafanstalt zu landen, schickt Vater Staat sie ins spartanische Resozialisierungscamp „Feel Nature“ mitten in die sächsische Schweiz. Dort soll das ungleiche Vierer-Squad durch Handwerksarbeiten und Gruppensitzungen wieder zu seinen besseren Ichs finden, alles unter der strengen Knute von Campleiterin Jorek. Doch irgendetwas stimmt nicht. Als auf unerklärliche Weise Dinge verschwinden und das Squad sich aus dem Wald heraus beobachtet fühlt, wähnen sie sich in einem schrägen Sozialexperiment. Und als einer von ihnen verletzt wird, wissen sie es mit Sicherheit: Hier liegt etwas ganz und gar im Argen.
Character Clash
Originaltitel | Wild: Sie hören dich denken |
Ursprungsland | Deutschland |
Jahr | 2020 |
Typ | Roman |
Bände | 1 |
Genre | Drama, Mystery |
Autor | Ella Blix |
Verlag | Arena Verlag |
Veröffentlichung: 11. Mai 2020 |
Die Geschichte von Wild beginnt mitten in der Pampa, als die vier jugendlichen Straftäter im Camp „Feel Nature“ abgeladen werden (ein Name, der irgendwie nach „Pseudo-Wellness-Psycho-Mist“ klingt). Wir treffen auf Ryan, einen scheuen Duckmäuserich, der sich mit Rosenshampoo betäubt und im Camp die Chance wittert, sich von seiner Rolle des „stinkenden Spinners“ zu emanzipieren. Olympe dagegen betritt die Bühne wie eine militante Veganerin, die sich lautstark über das anstehende Digital Detox im Camp auslässt, denn im Grunde ihres Herzens ist sie eine Coderin. Noomi präsentiert sich als Grinsekatze, deren abnormale Augenfarbe, pfeilschnellen Reflexe, vor allem aber gute Laune die anderen verunsichert. Zu guter Letzt Flix, der wie das Abziehbild eines Duschmodels wirkt und nebenbei ein begnadeter Stimmenimitator ist. Sie alle wollen die sechs Wochen im Camp schnell hinter sich bringen, ohne sich allzu sehr auf die anderen einzulassen. Sie wollen keine fremden Fassaden einbrechen und die anderen sollen gefälligst nicht durch die eigene hindurch sehen. Doch als sich die seltsamen Geschehnisse im Camp häufen und die Vier mit der Campleitung hadern, sehen sie ein, dass sie das nur als Team gescheit überstehen werden. Und für ein gescheites Team muss man sich kennen lernen. Dieses „wahre gegenseitige Verständnis“ wird eines der Leitmotive von Wild – nicht nur im menschlichen Bereich.
Happy Ends? „Ich glaube nicht an Happy Ends.“ – Tania Witte
Wild ist um 100 Seiten kompakter als Blix‘ Vorgängerbuch Der Schein, bietet aber dennoch genug Raum, um die Hintergrundgeschichte und Geheimnisse eines jeden Protagonisten abzuwickeln – immer im passenden Moment und mit passendem Bezug zu den aktuellen Geschehnissen im Camp. Dadurch erlangt jede Figur die nötige Tiefe, damit man den Werdegang gut nachvollziehen kann (und damit sich das von Ella Blix gewohnte „Gruppen-Feeling“ einstellt). Der zurückhaltende Ryan etwa scheint von Anfang an empfänglich für das neue Habitat zu sein. Seine Stärke ist es, in etwas aufzugehen und „zu verschwinden“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade er anfällig wird für die späteren Geschehnisse im Camp. Bei Flix ist das schon überraschender und man schmeckt eine melancholische Bitterkeit im vorletzten Kapitel, die der Bitterkeit aus Wagners Unland nicht unähnlich ist. Doch die Blix’sche Formel geht weiter: Wie auch schon bei Der Schein gibt es am Ende Hoffnung, die die Bitterkeit verdrängt.
Liebesbrief an Natur und Heimat
Wenn man sich den Klappentext durchliest (und das Wörtchen „Berlin“ übersieht), mag man die Geschichte mit dem Mystery-Flair und den ominösen Experimenten vielleicht irgendwo im hippen Ausland verankern (denn geile, spannende Sachen passieren immer nur im Ausland, gell?). So erging es mir zumindest damals bei der Lektüre von Hyde. Ich wähnte mich in Übersee, fand mich dann aber in Baden-Württemberg wieder (was jetzt kein Diss per se sein soll). Mittlerweile gehe ich ganz unbedarft an die Geschichten heran bzw. es ist naheliegend, dass Ella Blix ihre Heimat feiern werden. Und um ehrlich zu sein hat unsere Heimat das auch bitter nötig. Tatsächlich schaffen es die Autorinnen, die sächsische Schweiz mit ihren Schrammsteinen, dem Höllenschlund und dem Torwächter komplett zu mystifizieren. Man sieht sich nicht mehr im „hausbackenen“ Deutschland, sondern irgendwo anders – in Narnia oder sonst wo. Und trotz der Entrücktheit stellen Ella Blix die Natur nicht verklärt, sondern naturalistisch dar, mit allem, was zum Fressen und Gefressenwerden dazu gehört. Die Blix’sche Schönheit der Natur speist sich eben auch aus Dreck und Tod. Generell ist die Natur ein großer Pfeiler in Ella Blix’ Geschichten und um dem gerecht zu werden, ist Wild dieses Mal auch auf Umweltpapier gedruckt, inklusive dem „Däumchen Hoch“ des Blauen Engels.
Im Fokus: Das Squad
Kommen wir zurück zum „gewohnten Gruppen-Feeling“. Wie auch schon bei Unland und Vakuum (beide von Antje Wagner) und Der Schein (von Ella Blix) ist bei Wild die Gruppe das tragende Element. Das im Hintergrund herum wabernde Mysterium wirkt im Vergleich dazu schon fast wie ein schlichtes Plot Device mit dem Ziel, dem eigentlichen Schwerpunkt, nämlich der Figurengestaltung und -entwicklung, Dialogperformance und Gruppendynamik, einen spannenden Rahmen zu geben. Es ist bewundernswert, dass die Autorinnen es immer wieder von Neuem schaffen, einen mehrschichtigen und sympathischen Cast zu erschaffen, der nicht ausgelutscht wirkt. Das zeigt nur, wie groß die Welt ist, wie viele offensichtlichen Rollen es gibt und wie viele Eigenheiten, konträre Talente und Liebespräferenzen sich dahinter verstecken können. Wie auch schon bei Der Schein geht es um Schubladendenken und darum, wie man die Schubladen leert. Ella Blix greifen die Vielschichtigkeit des Lebens auf und bringen sie in ihren Geschichten unter – und das ohne eine allzu große Sache daraus zu machen.
Fazit
Wild erzählt von vielen Dingen. Von Entwurzelung und der eigenen Entfremdung; von unglücklicher Liebe, Mobbing und dem Drang, sich zu beweisen; von dem Päckchen, das jeder Einzelne von uns tragen muss und von der Wichtigkeit von Kommunikation und Verständnis. Verpackt werden diese großen Themen in eine spannende Mystery-Handlung, die sich mitten in der sächsischen Schweiz abspielt. Für Naturfreaks ist Wild ein Fest, denn die Geschichte strotzt nur so von lebhaften und schönen Naturdeskriptionen. Wer den Worten von Ella Blix folgt, der fühlt sich von Falken beobachtet und hört die Kienäpfel unter seinen Füßen knacken. Und manch einer erahnt sogar die Grunewalder Sandgrube. Mein persönliches Highlight ist aber schlicht und einfach das Squad. Ich habe eine absolute Schwäche für Ella Blix’ Gruppendynamik und Dialogperformance und es ist mir eigentlich egal, was die Protagonisten für weltverändernde Mysterien lösen müssen. Hauptsache, ich kann das Squad erleben. Wild ist eine klare Jugendbuch-Empfehlung von mir.
© Arena Verlag
Seit dem 11. Mai 2020 im Handel erhältlich: