Wakolda
Was würdest du tun, wenn dir aufgehen würde, dass der adrette deutsche Arzt, den du in dein Haus eingeladen hast, in Wahrheit Josef Mengele ist? Klingt nach der Prämisse für einen Trashfilm in Reinform, entpuppt sich aber als gruselige, leicht schlüpfrige und intellektuell lebhafte Geschichte, die alles ist, nur nicht trashig. In ihrem Roman Wakolda verwebt die argentinische Autorin Lucía Puenzo Fakten und Fiktionen über Mengeles Verbleib nach 1945 und entwickelt eine Vorstellung davon, was passiert wäre, wenn sich Mengele dazu entschlossen hätte, seine Experimente im Exil fortzuführen. Erzählt wird die Geschichte unter anderem aus der Sicht der kleinwüchsigen Lilith, die in Auschwitz gestorben wäre, in Wakolda aber eine seltsame Freundschaft mit Mengele schließt.
Die 12-jährige Lilith und ihre Familie sind im Jahre 1960 unterwegs nach Bariloche, um dort die Pension ihrer verstorbenen Großmutter zu übernehmen. Mitten in der Pampa treffen sie dabei auf den reservierten, aber charmanten José, mit dem sie eine Kolonne bilden, um die lange Fahrt über die „ruta de la muerte“ zu überstehen. In Bariloche angekommen, wird José bald darauf zum ersten Gast der Pension. Den Eltern ist José nicht geheuer, da er aber sechs Monate im Voraus bezahlen kann, müssen sie auf derlei Vorbehalte pfeifen. Allmählich beginnt José sich unauffällig auffällig für Liliths Kleinwüchsigkeit zu interessieren. Er stellt der Familie sogar in Aussicht, ihre Wachstumsstörungen beheben zu können und Mutter Eva nebenbei bei ihrer Zwillings-Schwangerschaft medizinisch zu unterstützen. Auch den Vater kann José begeistern, indem er ihm finanzielle Beteiligung an dessen Puppenproduktion anbietet. Mehr und mehr geht die gesamte Familie José ins Netz, dabei wissen sie nicht einmal, wer José in Wirklichkeit ist.
Aus Josef Mengele …
Originaltitel | Wakolda |
Ursprungsland | Argentinien |
Jahr | 2011 |
Typ | Roman |
Bände | 1 |
Genre | Drama |
Autor | Lucía Puenzo |
Verlag | Verlag Klaus Wagenbach |
Josef Mengele, der berüchtigte Lagerarzt aus Auschwitz. Er promovierte in Rassenhygiene und Erbbiologie und war besonders an Zwillingen und Kindern mit körperlichen Beeinträchtigungen interessiert. Sie waren das Spielfeld, auf dem sich Mengele austobte und seine absonderlichen und zumeist tödlichen Experimente durchführte. Die Häftlinge nannten Mengele den „Todesengel“. Die groben Eckpunkte seiner Flucht nach 1945 sind mittlerweile gut dokumentiert. Trotzdem haftet seinem Verschwinden immer noch etwas Mystisches an. Fest steht, dass er 1949 als „Helmuth Gregor“ das Land verließ und nach Südamerika flüchtete. Zu der Zeit schien die ganze Welt nach Nazi-Flüchtlingen zu suchen und witterte hinter jedem Schwein einen Spion. Als es im brasilianischen Cândido Godói vermehrt zu Zwillingsgeburten kam, war man sich sicher, dass das nur Mengeles Werk sein konnte. Mengeles Reise endete schließlich, als er 1979 in der Nähe von São Paulo beim Baden an einem Herzinfarkt starb. Für ihren Roman Wakolda hat sich Puenzo die frühen 60er ausgesucht, während der sich Mengele in Argentinien aufhielt.
… wird José
Die Annäherung an Traumata, Schrecken und Schreckgespenster etc. kann sehr schwierig sein, vor allem wenn dies ungefiltert und direkt geschieht. Josef Mengele ist ein solches Schreckgespenst, dem man als Leser vielleicht nur bedingt folgen möchte. Puenzo tritt diesem Problem entgegen, indem sie den deutschen Arzt nicht bei seinem richtigen Namen nennt, sondern José (eines von Mengeles vielen Pseudonymen). Auf diese Weise wird die Figur des Mengele abstrahiert, was den Zugang für die Leserschaft erleichtern kann. Im selben Zuge läuft der Leser aber auch Gefahr, ebenso wie Lilith in eine fast schon bewundernde Faszination für José hinein zu rutschen (wohlgemerkt: für seine literarische Darstellung). Puenzo beschreibt ihn als charmant, abgeklärt und klug. Er ist ein aufmerksamer Zuhörer, der Lilith (anfänglich) auf Augenhöhe begegnet und sanftes Interesse an dem zeigt, was sie bewegt. Wer sich in die Geschichte hinein begibt, beginnt José wegen dieser positiven Eigenschaften zu mögen.
José und Lilith
Der Schwerpunkt von Wakolda liegt weder auf der Nazi-Vergangenheit, noch auf Politik und Spionage (auch wenn die Mossad-Agentin Nora José auf der Spur ist), sondern auf der Beziehung zwischen José und Lilith. José selbst beschreibt die Begegnung zwischen ihnen unerwartet poetisch, als eine magische Fügung, und er sieht in Lilith sogar eine Seelenverwandte. Dabei fällt die Widersprüchlichkeit in Josés Verhalten auf. Auf der einen Seite hätten wir seine Schwärmerei für „das Reine“, die er im argentinischen Exil vor allem dadurch ausdrückt, dass er Liliths Vater bei der Produktion von „perfekten Puppen“ unterstützt. Auf der anderen Seite aber demonstriert er ein seltsames Verlangen nach dem Abnormalen und „Unreinen“. Es gibt einige wenige (aber vorhandene) Stellen im Buch, bei denen sich in Josés wissenschaftliche Beobachtungen noch etwas anderes mischt. Etwas, das sich durchaus in einem sexuellen Kontext deuten lassen kann und [durchaus berechtigt] die Frage aufwirft, ob hier eine Form von entarteter Liebe besteht. Lilith, die als Kleinwüchsige nur Häme und Spott gewohnt ist, kann Josés manierlichem Auftreten im Grunde nur erliegen. Das eigenwillige Interesse, das José ihr entgegen bringt, macht sie verlegen – und es gefällt ihr. Als er ihr in Aussicht stellt, ihr Körperwachstum ankurbeln zu können, ist sie natürlich direkt dabei, verheißt das doch vielleicht weniger Spott in der Schule. Es entsteht eine seltsame, manipulative Komplizenschaft zwischen den beiden.
Einmal Todesengel, immer Todesengel
Josés Fassade beginnt (für die Leser) natürlich mehr und mehr zu bröckeln und in die ursprüngliche Faszination mischt sich Widerwille. Sein wahres Interesse gilt trotz allem nicht den Menschen, sondern den Experimenten. Nach Jahren der Flucht und der gelebten Abstinenz eröffnet sich mit der Familie endlich die Möglichkeit, seine Wissenschaft fortzuführen, zumal Eva auch noch Zwillinge erwartet. Zwillinge: Mengeles Steckenpferd, denn hier hat er sowohl eine Experimental- als auch eine Kontrollgruppe. Mehr und mehr kommt sein Gottkomplex zum Vorschein, seine wahnhafte Akribie und seine Manipulationsgabe. Bald hat er die ganze Familie soweit, dass sie ihm passiv und ergeben, geradezu mutlos, aus der Hand frisst. Wakolda ist eine Tragödie für die Familie, aber eine Abenteuergeschichte für José.
Fazit
Wakolda ist ein Faszinosum; eine clevere Interpretation von Fakten und Fiktion. Die Geschichte eines ruhigen, stoischen Jägers mit einer bemerkenswerten Auffassungsgabe, der in Beziehung zu einem aufmüpfigen, kleinwüchsigen Mädchen tritt. Wakolda ist in einem geschichtlichen Kontext eingebunden, der auf wahren Begebenheiten beruht, doch bis auf Mengele und die Mossad-Agentin Nora sind die Figuren fiktiv. Vermutlich hat es Lilith und ihre Familie nie gegeben, doch sicher weiß man es nicht. Mit Wakolda versucht Puenzo, die Abgründe von José bzw. Mengele greifbarer zu machen. Sie zeigt ihn nicht wirklich als wahnhaften Sadisten, sondern vielmehr als grenzenlosen Zyniker, der unfähig ist, in seinen Opfern etwas anderes zu sehen als Menschenmaterial. Wakolda ist ein gewagtes und packendes Buch. Tragödie für die einen, Abenteuergeschichte für die anderen.
© Verlag Klaus Wagenbach
Im Handel erhältlich: