Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten

Was kommt dabei heraus, wenn mehrere Genrefilm-Regisseure ihre Wunschgeschichten, ihre kleinen Babies, auf Zelluloid bannen können? Eine einzige Reihe an irre-phantastischen Horror-Geschichten? Ja, womöglich. Denn Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten ist ein Kuriosum an Menschlichkeit. Für alle Ängste, von Verlust bis hin zur politischen Abschiebung, bieten die Geschichten rund um Vincent Paronnaud (den meisten durch den Instant-Klassiker Persepolis bekannt) sowie Mat Johns (A Father’s Day), Damien LeVeck (Exorzismus 2.0) und neun weiteren Regisseuren einen tiefen Einblick in kaputte Seelen und Abgründe der menschlichen Hoffnung. Eine unglaublich angenehme Überraschung, die ihre Deutschland-Premiere auf dem Obscura Filmfestival 2020 feiert. Dies verwundert nicht, ist das Festival wie der Film selbst: Handverlesen, mit Bedacht und viel Liebe auf das Zielpublikum zugeschnitten – und dennoch überraschend für seine Zuschauern.

   

Brandon grüßt zur Stand-Up Show. Er selbst ist angespannt, aufgeregt, zweifelnd, verängstigt, etwas zornig. Somit sinniert er zusammen mit seinem … nun ja, Publikum und lässt diese an Witz, Gedanken und Geschichten teilhaben. In den Momenten zwischen den Geschichten scheinen nicht nur Brandon und der Zuschauer zu merken, dass nicht alles so ist, wie es vielleicht erscheint. Und somit stürzt sich Brandon immer mehr in seine Geschichten und macht sich mit kleinen Anekdoten (mal geliehen, mal surreal) auf die Suche nach dem „WAS“ und nimmt das zunächst skeptische Publikum mit. Es soll seine letzte Show sein. Etwas „Phantastisches“.

In Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten nimmt Brandon (Raymond E. Lee) die Zuschauenden nicht an die Hand. Aber er stellt sich ganz dicht neben sie und flüstert förmlich seine Gefühlswelt ein, bevor diese mit unterschiedlichen Interpretationen (und durch diverse Regisseure) zum Leben erweckt werden. Insgesamt werden es neun Geschichten und mit Brandons eigener kleinen Show zehn Stories sein. Mehr oder weniger gehen diese nahtlos ineinander über.

Freude, Trauer, Comedy, reiner Terror

Originaltitel Asylum: Twisted Horror and Fantasy Tales
Jahr 2020
Land Argentinien, Mexiko, Neuseeland, Spanien, Großbritannien, USA
Genre Horror, Komödie, Science-Fiction
Regie Vincent Paronnaud, Mat Johns, Albert Pintó, Andrew Desmond, Kheireddine El-Helou, Damien LeVeck, Caye Casas, Alejandro Damiani, Carlos Goitia, Denis Walgenwitz, Adam O’Brien, Henryk Witscherkowsky
Cast Brandon: Raymond E. Lee
Philippa: Ariadna Asturzzi
Vater Lance: Sam Jaeger
Heather: Heather Morris
Drew: Neil Grays
Mia: Jessica Mann
Laufzeit 117 Minuten
FSK
Veröffentlichung: 27. November 2020

Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten lässt bei der Abfolge seiner Kurzgeschichten keine Längen zu, hetzt jedoch das Publikum nicht von Handlung zu Handlung, sondern nimmt sich in Form Brandons immer Zeit, darauf vorzubereiten, dass als nächstes etwas anderes kommt. Dabei spielen die Musik und die Titel der Geschichten mit den Ansprüchen und Gedanken der Zuschauer. Es darf verraten werden, dass man dadurch nicht nur einmal auf Glatteis geführt wird und damit in eh schon absurd-schaurig und überspitzte Geschichten geworfen wird, das vermeintliche Genre sich aber als eine 180°-Drehung entpuppt.

(K)ein Verlierer und viele Gewinner

Anthologie- und Episodenfilme bieten immer sehr viel Potential und scheitern in der Regel an Qualitätsschwankungen und Erwartungen des Zielpublikums. Kein Film und kein Werk schafft es, alle Freunde des Genres zufrieden zu stellen. Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten ist keine Ausnahme. Das Talent der einzelnen Regisseure ist jedoch in jeder einzelnen Geschichte zu spüren und zu sehen. Die vielleicht bekannteste (zumindest bei einem breiteren internationalen Publikum) dürfte die erste Geschichte sein. Einzelne Titel möchten wir an dieser Stelle ungerne verraten, denn damit nimmt man sich den Spaß und die Freude, in welche Richtung sich a) der Film und b) Brandon entwickelt. Die Handlung des ersten Kurzfilms nämlich überzeugte nicht nur Sponsoren und Publisher, sondern kam auch beim Testpublikum gut an: Aus einer 15-minütigen Geschichte erschuf Damien LeVeck im Anschluss einen waschechten Exorzismus-Schocker.

Deutsche (sinnfreie) Titel vs Original und Originalität

Die Exorzismus-Episode in Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten wurde von Damien LeVeck Gott sei Dank nicht künstlich gestreckt, sondern auf den Punkt erweitert. Aus „The Cleansing Hour“ wurde letztendlich in Deutschland „Exorzismus 2.0“. Was nach Wühltisch im Ausverkauf klingen mag, täuscht gewaltig. Wer diesen Kurzfilm in Asylum mag, wird übrigens auch von dessen „Langfassung“ begeistert sein. Denn die verlassenen Schema F-Pfade in der Kurzgeschichte werden darin weiter erkundet und präsentiert. Mit Kyle Gallner wurde (Dinner in America) ein bekanntes Gesicht und vielschichtiger Schauspieler gecastet. Der Titel „Exorzismus 2.0“ ist sogar ganz passend, wenn auch nicht clever für das Zielpublikum in Szene gesetzt.

Wohin geht der Horror

Mit meinem effektvollen Auftakt und einem gekonnten Hieb auf die sozialen Medien drückt Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten dezent auf die Bremse und huldigt nebenbei Wes Cravens Scream und interpretiert Fulci und Romeos Zombieklassiker mit einer herzzerreißenden (wortwörtlich) und herzerwärmenden Vater-Tochter-Geschichte sowie einer komödiantischen Einlage eines Pärchens, das sich nur durch den Tod scheiden lassen kann. Und was den „mexikanischen Albtraum“ für amerikanische Wähler darstellt. Der Humor und die Bildsprache erinnern dabei vielleicht manch einen an Four Rooms. Weniger die Geschichten, sondern eher Slapstick, Herz, Absurdität und Action sind vom Aufbau her ähnlich und auf gleich hohen Niveau.

Der Tod kann ein Twist sein, oder auch nicht

Je länger man den Geschichten beiwohnt und sich mit dem Verfall oder Zustand des virtuellen Publikums befasst, wird bewusst, dass diese Anthologie kein klassisches Ende bereithalten kann. Erfreulicherweise wird Zuschauern sogar mehr geboten: Die Themen Verlust und Angst vor der Einsamkeit werden in zwei Episoden dargestellt, wie sie nur unterschiedlicher nicht sein können. Asylum erinnert zum Ende daran, warum „irre“ und „Horror“ im Titel vorkommen und haut im wahrsten Sinne alles Mögliche heraus, nur um zu unterstreichen, was Angst bedeutet und schlägt das Buch krachend zu. Während des Abspanns reflektiert der ein oder andere Zuschauer, was die Anfangsworte waren und schlägt für sich eine Brücke zum Anfang. Somit erschafft die Anthologie einen schön-schaurigen Kreislauf, bei dem sich mehrmaliges Zuschauen einfach lohnt. Viele kleine Hinweise werden erst mit zweitem und drittem Hinschauen bewusst. An Gewalt, Horror, Humor und Skurrilität wird dabei nicht gegeizt, aber die feinen Nuancen zwischen genau diesen Exzessen machen dieses Gesamtwerk so besonders und und aus der Masse herrausstechend.

Fazit

Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten ist ein klarer Gewinner. Für mich persönlich das beste Beispiel, warum ich ein so großer Freund von Horror bin: Horror bedeutet schlichtweg nicht immer nur reine Jump-Scares, pompöse Musik, die einem die Ohren bluten lässt, nicht zwangsläufig reine Blutbäder und Amokläufe mit hunderten Waffen. Horror kann vielschichtig sein. Carlos Goitia, der als Regisseur für Asylum und damit die Konstellation der einzelnen Kurzfilme zuständig ist, hat es geschafft, mit klassischen Horror-Elementen und -Genres fast alle Facetten menschlicher Urängste und Psychosen einzufangen. Dabei platziert er kluge Hinweise wie einst M. Night Shyamalan und nimmt sich nicht zu ernst. Was darf es also sein? Hier gibt es beides: Entweder einen Film, bei dem die einzelnen Geschichten schließlich alleinstehend funktionieren würden oder aber mehrere Geschichten auf 120 Minuten, die eine runde „Twisted“ Story ergeben. Mit Pierrot Le Fou hat sich ein Label dem Film angenommen, welcher nun auch würdig vermarktet und im Mediabook verpackt wird. Asylum – Irre-phantastische Horror-Geschichten sei somit jedem empfohlen, der Horror abseits klassischer Sehgewohnheit erleben möchte, dabei aber nicht auf südamerikanisches Experimentalkino auf Arte und Cannes zurückgreifen will.

© Pierrot LeFou


Veröffentlichung: 27. November 2020

 

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