The Wilds (Staffel 1)

Es gibt Serien, deren Plot man eigentlich niemandem erklären mag, weil die Reaktion vermutlich ein Augenrollen oder ein „Das ist doch von … geklaut!“ hervorrufen wird. Ein solcher Fall ist das Amazon Prime Video Original The Wilds, das rein strukturell nach Copycat schreit: Bei einem Flugzeug-Absturz strandet eine Gruppe Menschen auf einer Insel, und während in Flashbacks persönliche Geschichten aufgearbeitet werden, geschehen rätselhafte Dinge im Hintergrund. Lost lässt grüßen! Da es aber ein Armutszeugnis des Streamingdienstes wäre, das Konzept einfach zu übernehmen, darf man mehr erwarten. Und siehe da: Die Unterschiede sind massiv. Denn während die Zuschauer*innen bei Lost im Dunkeln tappen, sind sie den Protagonisten in The Wilds viele Schritte voraus. Nach dem Erscheinen der ersten Staffel im Dezember 2020 war die Nachfrage so hoch, dass eine zweite Staffel des Mystery-Survival-Dramas bereits beauftragt wurde. Ein echtes Muss, denn die Produktion von Serienschöpferin Sarah Streicher (Marvel’s Daredevil) endet mit einem mörderischen Cliffhanger!

 

Als eine Gruppe Teenagerinnen das Flugzeug mit der Destination Hawaii betritt, ahnt noch keine von ihnen, dass ein großes Unglück seinen Lauf nehmen wird. Denn auf dem Flug kommt es zu Turbulenzen und als die Mädchen wieder zu sich kommen, finden sie sich an den Strand einer verlassenen Insel gespült wieder. Die gute Nachricht: Sie haben den Absturz überlebt. Die schlechte Nachricht: Niemand von der Crew scheint überlebt zu haben, nur ein Teil des Gepäcks wurde mit an Land gespült und Funkkontakt gibt es auch nicht. Es bleibt den Mädchen, die sich zuvor nicht kannten und auf dem Weg zu einem feministischen Retreat waren, also nichts anderes übrig, als in der Wildnis zu überleben. Als wäre das nicht beschwerlich genug, entstehen auch Differenzieren zwischen den Mädchen. Obendrein ergeben sich so manche Widersprüche der einzelnen Geschichten. Was die Gruppe nicht weiß: Ihr Absturz wurde gefaket und war von vornherein von dem Unternehmen, das das Projekt leitet, geplant. Nicht jede der Teenagerinnen ist, was sie zu sein vorgibt. Und eine weiß sogar ganz genau, was gespielt wird …

Handlung auf drei Zeitebenen

Originaltitel The Wilds
Jahr 2020
Land USA
Episoden 10 in Staffel 1
Genre Drama, Thriller
Cast Fatin Jadmani: Sophia Ali
Dot Campbell: Shannon Berry
Martha Blackburn: Jenna Clause
Rachel Reid: Reign Edwards
Shelby Goodkind: Mia Healey
Nora Reid: Helena Howard
Toni Shalifoe: Erana James
Leah Rilke: Sarah Pidgeon
Daniel Faber: David Sullivan
Dean Young: Troy Winbush
Gretchen Klein: Rachel Griffiths
Veröffentlichung: 11. Dezember 2020 auf Amazon Prime Video

Aus gutem Grunde zehrte Lost so sehr von den zahlreichen Flashbacks: Sie dienten dazu, die Figuren nicht nur im Hier und Jetzt und in einer Extremsituation zu erklären, sondern auch den eigentlichen Alltag darzustellen. Von diesem Kniff macht auch The Wilds Gebrauch, setzt allerdings noch einen drauf. Wie erleben die Mädchen in der Gegenwart auf der Insel, erleben Fragmente ihrer Vergangenheit, die uns ihre Persönlichkeit näher bringen, und der wohl interessanteste Teil: Interviews in der Zeit nach dem Inselaufenthalt. Ein gewaltiger Wissensvorsprung, der nicht nur verrät, wer das Abenteuer überlebt, sondern auch, dass während des Survival-Trips vieles nicht mit rechten Dingen zuging.

Stereotypisierung auf dem Papier

In Sachen Charakterzeichnung möchte man den Verantwortlichen für so viele Klischees erst einmal vor die Füße spucken: Nerd Nora (Helena Howard, Madeline’s Madeline) scheint das Wissen mit Löffeln gefressen zu haben. Dabei erscheint sie erst einmal hilfreicher als Fatin (Sophia Ali, Wahrheit oder Pflicht), die sich nur für Beauty und Sex interessiert, oder die launische Doroty, Rufname Dot (Shannon Berry, Offspring). Die gottesgläubige Shelby (Mia Healey) wirkt, als könne sie kein Wässerchen trüben, die naive Martha (Jenna Clause) ist das Gegenteil der sportlichen Rachel (Reign Edwards, Hell Fest). Und dann sind da noch die stille Einzelgängerin Leah (Sarah Pidgeon, Gotham) und die lesbische Toni (Erana James, Golden Boy). Eine Stereotypisierung, die sich wirklich nicht ansprechend liest, da so viele Probleme bereits festzustehen scheinen und vor allem hausgemacht sind. Erfreulicherweise gelingt es dem Drehbuch schnell, die Figuren entweder zu erklären oder die neue Umgebung für eine Beschleunigung ihrer Entwicklung sorgen zu lassen. Am Ende der ersten Staffel stehen die meisten Mädchen in einem anderen Licht da als noch zu Beginn. Gleich ist allen, dass sie jeweils mit einem dunklen Geheimnis auf die Insel gekommen sind, welches früher oder später ans Licht kommen wird.

Auf den ersten Blick wenig Innovation, aber …

Wann immer Teenager die Hauptrolle einnehmen, sind auch Themen wie Familie, Sexualität oder Drogen anwesend. Davon spricht sich The Wilds nicht frei – alles andere wäre auch wenig realistisch. Doch die Art und Weise, wie die Thematiken angegangen werden, überzeugt. Da die Mädchen alle in derselben Situation stecken, kommen sie nicht drumherum, sich mit den Problemen der anderen auseinanderzusetzen. Shelby hat beispielsweise eine streng christliche Erziehung genossen und weist homophobe Züge auf, teilt sich aber nun das Schicksal mit einem lesbischen Mädchen. Und Fatins Selbstbewusstsein ist nur so groß, wenn Jungs es dazu machen. Das sind alles keine Themenfelder, die einen Innovationspreis abräumen würden, doch der Umgang der Figuren miteinander und die individuellen Beziehungen sind der Schlüssel für das funktionierende Konzept. Vielleicht ist der Grad der Diversität erzwungen, auf der anderen Seite gibt es aber auch gute Gründe, weshalb die Mädchen in dieser Konstellation zusammengestellt wurden. Lebensnah sind die Mädchen nicht, dafür hält die Serie viel zu stark an ihrem Konzept fest, dass sich Frauen emanzipieren müssen. Doch den einen oder anderen Wesenszug von sich selbst kann man in mehr als nur einem der jungen Mädchen entdecken.

Erfahrener Cast trifft auf Newcomerinnen

Diese Mehrdimensionalität lässt sich auch auf den Cast übertragen. In The Wilds spielen überwiegend Newcomerinnen auf. Sarah Pidgeon, Helena Howard oder Jenna Clause sind neue Gesichter, die hier ihre erste Bühne bekommen. Andere Darstellerinnen waren bislang allenfalls als Nebenfiguren in Filmen oder Serien zu sehen. Sie alle stehen im Gegensatz zu gestandenen Schauspielern wie David Sullivan (Argo) oder der Oscar-nominierten Rachel Griffiths (Six Feet Under). Während die Jungdarstellerinnen also allen Raum bekommen, um ihre Figuren zu entwickeln, bleiben die Menschen hinter den Kulissen erst einmal geheimnisvoll. Mehr erfahren wir über Gretchen Klein (Rachel Griffiths), die die visionäre Strippenzieherin gibt, welche erstaunlich viele menschliche Züge zeigt. Das Drehbuch legt sich bei keiner Figur auf nur eine Seite fest, sondern illustriert beispielhaft, wie eine gute differenziere Charaktergestaltung auszusehen hat.

Fazit

Bewährtes Szenario auf erfrischende Weise genutzt: Obwohl die Zuschauer*innen von Beginn an wissen, dass The Wilds also ein Survival-Trip mit Big Brother-Effekt ist, bleiben viele Antworten offen. Etwa, wer die Menschen sind, die die Mädchen beobachten, oder welchem Zweck das Experiment dient. Nur häppchenweise summieren sich die Wahrheiten, was für einen spannenden Sog sorgt. Die Ansprüche an Glaubhaftigkeit sollte man unbedingt ablegen: Ein realistischer Überlebenskampf ist die Serie in keiner Minute. Dafür eine süchtig machende Serie, die das Herr der Fliegen-Motiv bestens bedient.

© Amazon Prime Video

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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Ayla
Redakteur
25. Februar 2021 18:27

Hui, die Staffel lässt sich wirklich super suchten. Ich hab sie mir nun in zwei Nächten komplett angesehen und bin auf jeden Fall schonmal sehr angetan. 🙂

Ich mag den Fokus auf die Charaktere sehr und die Erzählweise mit verschiedenen Zeitebenen hat mir schon in Lost sehr gut gefallen. Selbst die Charaktere, die ich zunächst als ziemlich anstrengend abgestempelt hatte (ganz besonders Rachel), sind mir dann durch ihre Backstory und ihre Entwicklung irgendwie ans Herz gewachsen. Am liebsten mag ich aber Nora, vermutlich weil ich mich auch ein wenig selbst in ihr gesehen habe.

Nora
Ich hatte irgendwie überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt, dass sie die Eingeweihte sein könnte. Meine erste Vermutung war Fatin wegen dem praktischerweise wasserdichten Koffer, dann jedoch Dot (obwohl ich da schon Zweifel hatte, weil das zu offensichtlich gewesen wäre), aber Nora kam mir nie in den Sinn. Dabei ergibt sie als die Eingeweihte perfekt Sinn und im Nachhinein hätte ich da früher auf sie aufmerksam werden sollen. Angesichts dessen, dass man sie in den Interviews nicht gesehen hat, hoffe ich mal sehr, dass sie nicht gestorben ist.

Dass der Absturz ein Fake ist und die Mädchen eigentlich Teil eines Sozialexperiments, ist schon echt krank, wenn man bedenkt, wie sie logischerweise psychisch unter der Situation leiden (und auch physisch so einiges passiert). Überrascht bin ich über Gretchen, weil sie gar nicht die gefühlskalte Wissenschaftlerin ist, die ich erwartet hatte, sondern durchaus auch z.B. Empathie zeigt, denn ich denke schon, dass sie auch ehrlich um Jeanette getrauert hat und nicht nur sauer war, dass ihr Experiment gefährdert wurde.

Ich bin jedenfalls wirklich gespannt auf Staffel 2!