Trisolaris – Die Trilogie

Bevor Barack Obama im Jahre 2017 das Weiße Haus verließ, hinterließ er der Welt eine »Reading List« – eine Liste mit elf Büchern, die der Präsident höchstpersönlich empfohlen hatte. Darunter auch die Trisolaris-Trilogie des chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu. Quasi ein präsidialer Ritterschlag, der der Trilogie die Aufmerksamkeit der westlichen Welt garantierte. Lange Zeit wurde Science-Fiction aus dem Westen nach China exportiert, doch mit Cixin Liu kam die Wende und der Westen war verrückt nach chinesischer Sci-Fi. Sieben Jahre später, im Jahre 2024, sollte das Interesse in der Serienadaption von Trisolaris auf Netflix gipfeln. Grund genug für uns, noch einmal einen Blick auf Lius Exportschlager zu werfen.

   

1960 während der chinesischen Kulturrevolution: Die Physikerin Ye Wenjie sitzt in einer abgelegenen Forschungseinrichtung der Mao-Regierung fest und arbeitet mit Politkommissaren und Ingenieuren an einem ehrgeizigen Ziel: Signale ins All zu senden und als erste Nation mit einer außerirdischen Kultur Kontakt aufzunehmen. 50 Jahre später werden die Früchte dieses Projekts geerntet und stürzen die Menschheit in eine globale Krise, die das Schicksal der Menschheit und des gesamten Universum neu bestimmen wird.

Wissenschafts-Thriller und Fortsetzungsroman

Originaltitel Trisolaris
Ursprungsland China
Jahr 2006–2010
Typ Roman
Bände 3
Genre Science-Fiction
Autor Cixin Liu
Verlag Heyne
Veröffentlichung:
2016-2019 (die drei Einzelbände)
30. November 2022 (Komplettausgabe)

Die Trisolaris-Trilogie ist ein Mammutwerk. Sie beginnt in den 1960er Jahren während der chinesischen Kulturrevolution und endet irgendwo im hinterletzten Eck der Zeit. Der Schwerpunkt liegt auf den 300 Jahren unmittelbar nach dem Erstkontakt, als eine Frau vor lauter Selbstentfremdung Verrat an der eigenen Spezies begeht. Am dichtesten erzählt ist Band 1 Die drei Sonnen, der »nur« 50 Jahre umfasst. Als Physikerin Ye Wenjie auf den Telefon-Knopf in All drückt und mit den »Trisolariern« kommuniziert, passiert erst einmal lange Zeit nichts. Die zeitlichen Maßstäbe in der Science-Fiction sind eben andere. Nach 50 Jahren beginnen aber plötzlich seltsame Dinge zu geschehen. Auf der Netzhaut von Forschern erscheint ein mysteriöser Countdown, der seine Besitzer wie extrem hartnäckige Mouches Volantes in den Wahnsinn treibt. Es taucht eine Simulation auf, die in gleichen Teilen skurril wie erschreckend brutal ist und sich später als VR-Game zum »Kulturverständnis« zwischen Menschen und Trisolariern entpuppt. Und nicht zu vergessen: die Wissenschaft spielt verrückt. Die Trisolarier planen den Tod der menschlichen Wissenschaft als Vorbereitung auf die Invasion in 450 Jahren – solange dauert es nämlich, bis ihre Raumschiffe den Planeten erreichen werden. Der erste Band liest sich wie ein Mystery-Thriller weg. Jedes Kapitel ist ein knackiger Snack, der Lust auf mehr macht. Hier merkt man die Medienform, in der der erste Band ursprünglich erschienen ist: als Fortsetzungsroman im chinesischen Sci-Fi- Magazin »Science Fiction World«.

Der Schreibstil

Die Sprache wirkt simpel, ist aber in ihrer manchmal geradezu minimalistischen Schönheit völlig ausreichend, um das Geschehen einfach und auf den Punkt zu beschreiben. Auch die Figuren sprechen häufig ungewohnt geradeheraus. Gefühle und Meinungen werden überraschend stark und direkt geschildert, was schon fast naiv wirkt. Eine Naivität, die bei Liu immer irgendwie durchscheinen wird – etwa in Form einer Katana-schwingenden Schönheit in Tarnfleck, die glatt einem Billo-Anime entsprungen sein könnte – und die in starkem Kontrast zur immensen Komplexität seiner Geschichte steht. In Kombination damit, dass sich die Figuren mit Vor- und Familiennamen anreden, verleiht Lius Schreibstil den Dialogen einen bisweilen steifen Touch, sodass man sich manchmal wie in einem Theaterstück fühlt. Das kann an subjektiven, kulturell bedingten Gewohnheiten liegen, möglicherweise aber auch an der Übersetzung, denn ab dem zweiten Band, der mit einer neuen Übersetzerin daher kommt, verliert sich dieser Eindruck.

Der Mastermind öffnet sich

Mit Band 2 Der dunkle Wald verzichtet Liu auch auf die knackigen Kapitel und zieht uns in einen kontinuierlichen Lesestrom. Ab hier beginnen die noch größeren Ideen, die Gedankenexperimente und die Zeitsprünge. Diese Zeitsprünge sind notwendig, um bestimmte Prämissen für seine Ideen zu schaffen, aber auch um deren Konsequenzen aufzuzeigen. Darüberhinaus kann Liu mithilfe dieser Zeitsprünge seine eigenen Ideen relativieren. Ein Beispiel: Zu Beginn von Band 2 wird ein Projekt zur Rettung der Menschheit in Gang gesetzt, das für alle Beteiligten große psychologische Folgen hat und ihr Leben bis hin zum Tod massiv beeinträchtigt. Als Leserin, die mit Lius Naivität bereits vertraut ist (s.o.), denkt man zunächst: »Sein Ernst?«, ist dann aber doch irgendwann völlig hooked und denkt sich: »Jau, dieses Projekt ist der heiße Scheiß!«. Doch keine 200 Jahre später wird dieses Projekt von der menschlichen Gesellschaft als »Auswuchs des Infantilismus« abgetan. Liu belächelt hier seine eigene Idee und die Leser:innen sind erschüttert, wie schnell dieses staatstragende Projekt abgetan wurde – wie nichtig etwas erscheinen kann, wenn der Strom der Zeit nur lange genug geflossen ist.

Keine Soft-Science-Fiction

Durch den großen zeitlichen Umfang bleibt eine enge emotionale Bindung an die Figuren zumeist aus (außer vielleicht beim Kosmosoziologen Lou Ji), was aber nicht heißt, dass wir die Figuren wie Unterhosen durchwechseln. Die Zukunft macht es möglich, dass wir lange an der Seite der Figuren bleiben können. Es besteht immer die Chance, das irgendwo jemand auftaucht, den wir von früher kennen (persönlicher Liebling: Politkommissar Zhang Beihai). Dennoch bleiben die Figuren eher blass, da sie recht simpel (oder eben naiv) gezeichnet sind. Liu schildert zwar die Entwicklung der menschlichen Zivilisation, bleibt dabei aber stark im Bereich der Hard Sci-Fi kleben. Wer hier Soft-SF mit ausgefeilten sozialpsychologischen Einsichten mit ebenso ausgefeilten Figuren wie etwa bei Ursula K. Le Guin erwartet, der ist bei Trisolaris fehl am Platz.

Die Verbrecher von heute sind die Helden von morgen

Dafür passieren viele aufregende, aber auch erschreckende Dinge. Es gibt massenhaft Wendungen, die alles bisher Etablierte wieder relativieren. Ist die blutige Flucht von Deserteuren zunächst ein justiziables Verbrechen, ist es 200 Jahre später der letzte Strohhalm, an den sich die Menschheit klammert – und wieder später kommt doch wieder alles ganz anders. Interessant hierbei ist die moralische Bewertung der historischen Ereignisse. Liu zeigt, dass jeder Mensch an das Zeitalter, das er durchlebt, gekettet ist und dass auch die moralische Einordnung innerhalb dieser Ketten liegt. Deserteure, die zu Lebzeiten hingerichtet werden sollten, gelten 200 Jahre später als Helden.

Und die Erkenntnis nach 1740 Seiten?

Ebenso wandelbar sind die politischen Systeme sowie die Prioritäten der einzelnen Zeitalter. Das Informationszeitalter steht und fällt mit dem Wohlstand und auch die Demokratien kommen und gehen, wie sie wollen. Kaum ist die Menschheit im All, drückt sie nach fünf Minuten auf den Totalitarismus-Knopp. Als Trisolaris-Leser fühlt man sich vor allem ab Band 3 Jenseits der Zeit wie ein Historiker, der das große Ganze überblickt und kategorisiert. Das macht Trisolaris leicht kühl und distanziert, aber auch extrem faszinierend. Die Menschheit hat viele verzweifelte Pläne für ihr eigenes Überleben in phetto, ganz nach dem Motto »Die Quote macht’s«. Wenn man mittendrin ist, scheint alles hoffnungslos. Aber von außen, als Historiker, sehen wir, dass es immer einen Plan gibt, der funktionieren wird. Eine von den zwölf Klarinetten im Blasorchester wird schon den richtigen Ton treffen, gell? Das macht es für den einzelnen Zeitzeugen nicht besser, aber aus der Distanz betrachtet schenkt es Hoffnung. Insgesamt ist die Trisolaris-Trilogie ein ständiges emotionales Auf und Ab. Es gibt Lichtblicke, aber mit jeder neuen Ebene wird die Stimmung desaströser und pessimistischer. Und doch, trotz aller Komplexität und trotz der schlimmen Dinge, bleibt am Ende ein naiver Optimismus und die melancholische Erkenntnis, dass die Menschheit nur ein kleiner Tropfen in einem riesigen Ozean ist. »Nichts existiert in der Natur allein«.

Fazit

Die Trisolaris-Trilogie ist unfassbar fucking episch – oder wie Obama es ausgedrückt hat: »von immensem Umfang«. Es ist eine wilde Fahrt, deren Ausmaße man anfangs nicht einmal erahnen kann. Es gibt einige Kritikpunkte, etwa die eher blassen Charaktere oder die teilweise »abstrusen Verzerrungen physikalischer Tatsachen« (Thomas Grüter auf Spektrum.de). Auch kann man die wissenschaftlichen Exkurse à la Frank Schätzing bemängeln (ich finde sie allerdings großartig). Dennoch: Als Gesamtkomposition ist die Trisolaris-Trilogie fabelhaft. Sie vereint so viele phantasievolle Ideen, Gedankenexperimente (sogar das erste Auftauchen »echter Magie« im Mittelalter wird dokumentiert) und überrascht immer wieder mit neuen Ebenen, die unser Verständnis der Realität erweitern. Eine lange, aber lohnende Lektüre, die den Geist öffnet. Däumchen hoch von mir.

© Heyne

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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