Die Legende vom Tränenvogel
Als sich ein Mensch mit einem dunklen Geheimnis, ein kampfeslustiger Lekon und ein pazifistischer Dokebi am Rande der Wüste in einem Wirtshaus treffen, ahnen weder sie noch die Leserschaft, in was für ein fantastisches Abenteuer Autor Lee Young-do seine Helden wirft. Die 2003 in Südkorea erschienene Reihe Die Legende vom Tränenvogel begeisterte dort Millionen von Lesenden. Ende des Jahres 2024 kamen auch Leser:innen in Deutschland in den Genuss, die faszinierende, von Elementen koreanischer Sagen inspirierte, erfrischende Tetralogie zu verschlingen und sich gleichzeitig über philosophische Fragen das Hirn zu zermartern – Vorsicht! Es besteht Suchtgefahr.
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Am Rande der Punten-Wüste trifft sich eine sonderbare Gruppe. Und eigenartig ist die Gruppe in der Tat und widersprüchlich, besteht sie doch aus dem mysteriösen Menschen Kaygon Draka, einem friedfertigen, aber lustigen Dokebi mit dem Namen Bihyung und dem drei Meter großem, äußerst temperamentvollem Lekon Tihanan. Sie alle folgen dem Ruf einer Prophezeiung: Sie müssen ausgerechnet aus den Tiefen des Dschungels einen Naga retten, um den Untergang der Welt zu verhindern. Eine wirklich schwere Aufgabe, denn Kaygon Draka hasst mit jeder Faser seines Körpers die Nagas. Zudem schneiden sich diese das Herz hinaus, um ewig zu leben. Wie kann also ein gänzlich herzloses Wesen den Fortbestand der Welt bedeuten?
Zur selben Zeit fürchtet sich der junge Naga Ryun Pey in der Stadt Hatengrazu vor der Entnahme seines Herzens. Seine Ängste teilt er mal mehr mal weniger mit seinem besten Freund Hwarit Makerow und seiner geliebten Schwester Samo Pey. Doch der Tag der Herzentnahme stellt Ryuns gesamtes Leben auf den Kopf. Denn Hwarit wird von seiner eigenen Schwester Vias im Herzturm ermordet. Im Sterben liegend, vertraut dieser Ryun an, dass die Hüter Hatengrazus ihn für eine geheime Mission ausgewählt haben. Im Dschungel soll er sich ausgerechnet mit einem Menschen, einem Dokebi sowie einem Lekon treffen und ihnen in den Norden zum Großtempel Hainsha folgen. Nun bittet Hwarit seinen besten Freund, diese Aufgabe zu übernehmen. Getrieben von der Angst sein Herz zu verlieren, entschließt sich Ryun genau dies zu tun und flieht. Dass ausgerechnet Samo Pey einer Intrige von Vias zum Opfer fällt und ihren eigenen Bruder, der dem Mord an Hwarit angehängt wird, als Attentäterin folgen muss, ist eine grausame Ironie. Doch dem Rettungstrupp um Kaygon gelingt es Ryun noch rechtzeitig zu finden. Nun zu viert machen sie sich sofort auf den Weg in den Norden, um den Großtempel Hainsha zu erreichen. Samo Pey, die sie unermüdlich verfolgt, ist ihnen dabei ein Dorn im Auge. Auf ihren gänzlich unterschiedlichen Wegen zum Tempel bekommen die Geschwister jedoch Unterstützung: Ryun in Form eines kleinen Drachens und Samo in Form des Riesentigers Marunare. Doch auch wenn die zwei sich auf ihren Reisen immer mal wieder begegnen, schaffen Kaygon, Bihyung, Tinahan und Ryun es immer und immer, wieder Samo zu entkommen. Nur um am Ziel ihrer Reise auf einen Komplott der Hüter Hatengrazus hereinzufallen, der die gesamte Welt ins Unglück zu reißen scheint.
Eine fantastische Welt, die in den Bann zieht
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Originaltitel | Nunmureul Masineun Sae |
Ursprungsland | Südkorea |
Jahr | 2003 |
Typ | Roman |
Genre | Fantasy |
Bände | 4 |
Autor | Lee Young-do |
Verlag | Wilhelm Heyne Verlag (2024) |
Vollständig erhältlich seit dem 11. Dezember 2024 |
Lee Young-do schafft es, dass die Leser:innen sich förmlich zwischen den Buchdeckeln verlieren. Das erreicht er nicht nur durch malerische Beschreibungen des wilden Dschungels Kiboren, rauen Steinfestungen, zerklüfteten Tälern, sondern insbesondere durch seine faszinierende Geschöpfe, die teilweise so verrückt sind, dass man nicht weiß, wie man sie beschreiben soll. Denn Duokxinis haben keine Beschreibung! Die Dokebis dagegen lassen sich sehr gut beschreiben. Sie sind die friedensliebendsten und humorvollsten Wesen, die von ihrem Gott, „der Gott, der sich selbst tötet“, die Kraft über das Feuer erhalten haben. Einem Dokebi unbedarft Blut auszusetzen und so bewusst mit dessen Angst davor zu spielen, riskiert, dass dieser in Panik die Kontrolle über die Flammen verliert. Der Schaden, der daraus folgt, kann verheerend sein, wie die Nagas nur zu gut wissen. Freundlich gesinnt, aber mit zerstörerischen Kräften – was für ein Widerspruch! Zudem kann ein toter Dokebi als Ahn in die sterbliche Welt zurückkehren kann, um jeden mit seinen Scherzen auf die Nerven zu gehen.
Während Menschen, Dokebis und Lekons sich mit ihren Stimmen mehr oder wenig freundlich unterhalten, schenken die schlangenähnlichen Nagas ihrem Gehör ziemlich selten Aufmerksamkeit. Denn die bäumeliebenden und wechselwarmen Wesen unterhalten sich auf telepathische Weise, was sie „nirmen“ nennen. Ihre Gefühle zeigen sie durch das Rasseln oder Aufstellen ihrer Schuppen. Genau diese Tatsachen sorgen für einige interessante Situationen, wenn Ryun oder Samo bewusst auf ihr Gehör achten müssen. Die Tatsache, dass sie wechselwarm sind, sorgt zudem für einige interessante militärische Kniffe.
Erfrischend ist auch die gesellschaftliche Struktur der Nagas. Diese ist matriarchalisch aufgebaut. Matriachinnen der Naga-Familien wie Pey oder Makerow haben sehr viel Einfluss, während Naga-Männer wenig bis gar nichts zu melden haben. Männer dienen als Erhalt der Familien und werden auch nur deswegen in deren Häusern Willkommen geheißen. Wenn ein männlicher Naga im Alter von 21 Jahren rituell sein Herz entnehmen lässt, gewinnt er zwar die Unsterblichkeit, verliert aber auch gleichzeitig alle Bande zu seiner Familie und muss das Haus verlassen. Nicht umsonst, kennen die Nagas die Bezeichnung „Vater“ nicht, etwas was für Ryun von großer Bedeutung ist. All dies bietet den Nährboden für gesellschaftliche Risse, die insbesondere Vias für sich zu nutzen weiß. Umso delikater ist es, dass ausgerechnet nur Männer Hüter werden können. Sie sind somit die Einzigen, die von ihrer Göttin einen göttlichen Namen erhalten. Dadurch sind sie in der Lage, als einzige zu allen anderen Völkern, mit ihrer Göttin direkt zu kommunizieren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Tiefen des Dschungels die Intrigen und Täuschungen ranken wie Lianen.
Nordeuropäische Fantasy im asiatischen Erzähl-Gewand
Lee Young-dos Gabe besteht zweifelsfrei in der Kunst, nordeuropäische Fantasy-Elemente mit koreanischen Volkssagen zu verweben, wodurch ein einzigartiges Leseerlebnis entsteht. Mit Die Legende vom Tränenvogel legt er den Grundstein für asiatische moderne Fantasy, die vorher mehr von den Wuxia-Erzählungen, in denen Kung-Fu Kämpfer über Dächer fliegen und sich in ihren Kampfkünsten miteinander messen, geprägt war. Ein Beispiel dieses Genres ist ganz klar Die Legende der Adlerkrieger (Jin Yong, 2020). Tolkiens Mittelerde oder Martins Westeros waren den meisten Koreanern daher nicht vertraut und so schuf Lee etwas gänzlich Neues. 2003 schaffte er schließlich in Südkorea den Durchbruch und brachte seinen Landsleuten zugleich das Fantasy-Genre näher. Nicht umsonst gibt Lee selber zu vom Herrn der Ringe (J.R.R Tolkien) und dem Nibellungenlied inspiriert zu sein. Drachen können Feuer speien und entfalten dadurch eine zerstörerische Kraft. Die Nagas sind so gesehen unsterblich, können ihren Körper bei genügend Zeit regenerieren. Nicht verwunderlich also, dass sie sich als vollkommen ansehen. Ob sie tatsächlich so vollkommen wie Tolkiens Elben sind, bleibt fraglich.
Eine große Prise koreanische Kultur bitte!
Auf jeder ist der Einfluss koreanischer Sagen zu lesen, der der gesamten Reihe eine vielschichtige Tiefe verleiht. So sind die Dokebis von den koreanischen Naturgeistern (Dokkaebis) inspiriert, die sich am ehesten an die westliche Vorstellung von Kobolden vergleichen lässt. Diese furchteinflößenden, großen Naturgeister sind aber alles andere als fiese Gesellen. Meistens haben sie ein gutes Herz und helfen den Menschen. Allerdings spielen sie auch gerne Streiche, weswegen ihre Umgebung nicht selten in Chaos gerät. Koreanische Legenden erwähnen auch ihre Furcht vor Blut. So ist es nicht verwunderlich, dass die Dokebis ihren Sport Shirem, angelehnt an das koreanische Ringen (Ssireum), zur Königsdisziplin getrieben haben. Doch auch Humor beweist Lee in seinen Werken. So nennen unsere lustigen Freunde, die Menschen (Kimms). Nicht nur, ist Kim ein sehr häufiger Familienname in Korea, auch soll der erste Mensch, der Kontakt zu einem Dokebi aufgenommen hatte, ebenfalls Kimm geheißen haben. Zudem fasziniert Lee seine Leserschaft mit seiner Liebe altertümliche Begriffe zu verwenden. So stammt beispielsweise der Name für das Schloss der Dokebis „Zumunnuri“ aus dem Proto-Koreanischen und lässt sich mit „tausend Welten“ übersetzen – eine passende Bezeichnung für ein labyrinth-artiges Schloss, in dem man sich sogleich verläuft, wenn man auf den Gang tritt.
Doch auch grundsätzliche asiatische Vorstellungen werden einem förmlich ins Gesicht gedrückt. Der Buddhismus ist in der Legende vom Tränenvogel omnipräsent. Die vier Völker sind den jeweiligen Elementen, Feuer, Wasser, Erde und Luft zugeteilt – was sofort an die daoistische Lehre erinnern lässt. Mit dem Riesentiger Marunare und dem Drachen Ashwarital, die jeweils an den Seiten von Samo Pey und Ryun Pey ihre Abenteuer bestreiten, ist auch der Gedanke von Yin und Yang enthalten. Drachen und das Männliche werden im chinesischem Daoismus dem Yang zugeschrieben, während Tiger und das Weibliche für das Yin stehen. Zudem spielt der Tiger eine wichtige Rolle im koreanischen Schöpfungsmythos.
Symbole, Metaphern und Hirnknoten
Wer sich an die Legende des Tränenvogels wagen möchte, der sei vor akuter Hirnverknotung-ritis gewarnt! Jeder Name, jeder Ort, ja selbst Waffen haben in Lee Young-dos Werk haben eine tiefere Geschichte und erklärt, weshalb die Charaktere handeln wie sie handeln. Allein schon Kaygon Drakas Name steht für den sinnbildlichen Hass auf die Nagas, stehen sie doch für zwei von den Nagas ausgerotteter Völker. Die Nagas selbst lassen sich im Herzturm, ein Gebäude, das Himmel und Erde miteinander verbindet, ihre Herzen herausnehmen und aufbewahren. Kaygons Schwert Baragi, das einst dem ersten König der Lekons, Dokebis und Menschen gehört haben soll, ist auch symbolträchtig, hat es doch zwei Klingen und wird genau von dem Mann geführt, der die Nagas am Meisten hasst. Sogar der namensgebende Tränenvogel ist eine Metapher. Wer oder was genau damit gemeint ist, ergründet man nur, wenn man die Reihe komplett von Anfang bis Ende liest. Nur so viel sei gesagt: Der Tränenvogel trinkt die Tränen der anderen und genau deswegen wird er auch als erstes sterben. Doch wir dürfen alle beruhigt aufatmen, denn selbst nicht alle Charaktere verstehen die philosophischen Tiefen, mit denen in Dialogen um sich geworfen wird.
Fazit
Die Legende vom Tränenvogel hat mich gefesselt und mit nachdenklich gerunzelter Stirn über den Seiten hängen lassen, wie schon lange kein Buch mehr. Die Liebe für interessante Völker, einer imposanten Welt voller schillernder Kreaturen und ein inspirierendes, stringentes Worldbuilding hat mich gänzlich in seinen Bann gezogen. Über eine Gesellschaft wie von den Nagas hatte ich noch nie gelesen. Doch auch die Geschichten in den Geschichten sowie die philosophischen Unterhaltungen machen Spaß zu lesen. Ich wurde gezwungen umzudenken und meine ganze fantastische Vorstellungskraft zu bündeln, um Lees berauschender Welt in seiner Gänze zu folgen. Ich habe mitgefiebert und mitgebangt und war am Ende von einem seltsamen Gefühl der Begeisterung und Leere eingehüllt. Doch auch mir bleibt die Hoffnung, zwar nicht auf den König des Nordens, sondern auf eine Fortsetzung. Immerhin brachte Lee Young-do 2005 einen fortsetzenden Band in seiner Heimat heraus und ich kann es kaum erwarten, bis dieser hier in Deutschland erscheint.