Violet Evergarden (Folge 4)
Menschen sagen nicht nur das Gegenteil von dem, was sie meinen, manchmal lügen sie auch. Das ist nicht immer einfach zu erkennen. Doch gelegentlich ist es besser, eine Lüge zu entlarven, vor allem, wenn sie aus Eitelkeit entstand. Folge 4 von Violet Evergarden beleuchtet Violets Mitarbeiterin Iris näher, die ihre Heimatstadt für ihren ersten dedizierten Auftrag besucht und dabei von Violet begleitet wird.
Iris hat einen Auftrag bekommen! Und das auch noch aus ihrer Heimat. Hocherfreut darüber, endlich wie Cattleya angefragt zu werden und ihrer Familie und Bekannten als erfolgreiche AKORA wieder zu begegnen, kann sich Iris kaum im Zaum halten und verletzt sich bei einem unachtsamen Sturz den Arm, sodass Violet als ihre Tipphelferin mit in ihr Heimatdorf Kazali reist. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, dass der Auftrag nur eine Masche war, um sie zur Heimkehr zu bewegen und damit sie einen Bräutigam findet und ihren Beruf niederlegt…
Temperamentvolle Rückkehr in die Heimat
Ähnlich wie in der zweiten Folge wird in der vierten Folge Violets Arbeitskollegin näher vorgestellt. Iris Canary hat zwar wie Erica die Ausbildung zur Korrespondenzassistentin erfolgreich abgeschlossen, doch steht auch sie im Schatten der begabten und gefragten Cattleya. Mit diesem Umstand geht die aufbrausende Iris jedoch anders um als als die schweigsamere Erica. Ericas Motivation zum Korrespondenzassistentenberuf ist die Inspiration durch ihre Lieblingsbücher. Iris’ Motivation ist der Stolz auf ihren Beruf, den sie sich, trotz eigentlich nicht vorhandener Neigung und Begabung zum Schreiben, durch harte Arbeit errungen hat. Ihre Unsicherheiten versteckt sie nicht in einem Schatten, sondern überspielt sie mit Temperament. Das sickert schon in der zweiten Folge durch, als sie Violet anfährt, als diese auf sie wirkt, als zolle sie der Arbeit und deren Schwierigkeit nicht genug Respekt. Entsprechend groß sind ihre Freude und persönliche Bedeutung, endlich einen speziell an sie gerichteten Auftrag zu erhalten. Umso größer die Enttäuschung, als sich dieser nicht nur als Betrug entpuppt, sondern als Bevormundung von ihren Eltern, die ihre Arbeit nicht anerkennen.
Jenseits von Eitelkeit und Stolz verbindet Freimütigkeit
Schon vor dem Eintreffen im Dorf zeichnet sich das Thema dieser Folge ab: Iris’ Temperament ist vor allem von Eitelkeit geprägt. Anders als Violet oder Erica trägt sie keine Stiefel, sondern hohe Sandalen und fällt wegen ihnen und ihrer Unaufmerksamkeit von der Treppe und verletzt sich den Arm. Die Schuhe kehren im weiterem Verlauf wieder zurück: ein genervtes Gesicht verzieht sie, als sie in einer Schlammpfütze dreckig werden. Iris ist das genau Gegenteil von Erica: Statt den Blick zu senken, sich einzuengen und sich im Schatten zu verstecken, übertönt sie ihre eigenen Unsicherheiten. Hinter Draufgängertum, Übertreibungen bis eklatanten Lügen steckt letztlich nur eine Fluchtaktion. Auch Iris’ Eltern verstecken ihre Sorge um ihr Wohlergehen in ungefragte Bevormundung und Betrug. Letzteres verletzt sie noch mehr, als Violets vermeintliche Leichtfertigkeit und damit implizierten Diskreditierung ihrem Beruf gegenüber, sie beleidigt. Die unbeabsichtigte Taktlosigkeit, Eamon einzuladen, ist da nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Violet ist nicht die einzige, die in Fettnäpfchen treten kann. Doch ihre unverdorbene, treuherzige Art in allen Menschen Beispiele, von denen sie zu Lernen, hat zu sehen, hält einen Spiegel vor die Familie, die sich in ihren Lügen aus Stolz verzettelt hat. So wie Erica nun im CH-Postbüro mit erhobenen Blick in der Sonne steht, macht sich Iris am Ende nichts mehr daraus, als ihre Schuhe in der Pfütze wieder dreckig werden. Violet gegenüber ist sie nun ebenfalls wesentlich wohlgesonnener.
Detailreiche Expansion der Welt
Anders als in der Stadt Leiden, die weitgehend durch das viktorianische Englisch geprägt ist, erinnern Kazalis Bewohner und deren Kleidungsstil Anlehnungen die Sinti zu sein scheinen. Sinti sind Teil der Roma und Nachfahren von ethischen Gruppen Indiens, die im 15. Jahrhundert nach Europa einwanderten. In ähnlichen Breitengraden um Indien dürfte das fiktive “Leidenschaftlich” angesiedelt sein. In Leiden sieht man überall an den Straßen Palmen und in Kazali wird das warme Klima betont, welches Violet nichts ausmacht, da sie es aus den Kriegsgebieten gewohnt ist. Mit der Erwähnung von “House of Lords” und “House of Commons” (“Ober-” und “Unterhaus” in der dt. Übersetzung) der politischen Struktur Großbritanniens erscheint die Welt von Violet Evergarden so, als könnte es wirklich eine Kolonie des weitreichenden British Empire gewesen sein. Der Konflikt zwischen Iris und ihren Eltern referenziert die sachten Töne viktorianischer Emanzipation. In einer Zeit, in der trotz einer Frau an der Macht immer noch Heirat und Kindererziehung für die Masse das einzig normale, akzeptable Leben ist, ist ökonomische Selbständigkeit durch eigenständige Arbeit selbst bei allem Gutwillen nicht mit viel Verständnis gesegnet. Das Zeitalter unter Queen Victoria war ein Jahrhundert voller technischer Umbrüche (die, die Begründung des Science-Fiction Genres inspirierte), als auch eine Zeit im Kampf um Menschlichkeit zwischen Arm und Reich, den vor allem viele Frauen führten. Aus der Zeit findet man nicht nur große männliche Namen klassischer englischer Literatur wie Charles Dickens, William Thackeray oder Thomas Hardy, sondern ebenso die hinter männlichen Pseudonymen getarnten Brontë-Geschwister und Mary Anne Evans. Ein ausgesprochen passendes historisches Setting für Themen wie Menschlichkeit und Selbstständigkeit, die schon seit der ersten Folge klar definierte Themen von Violet Evergarden sind, eingebettet in einen Beruf über das geschriebene Wort, der nicht nur zentraler Angelpunkt der Handlung sondern gleichzeitig eine Hommage an eine ganze Literaturepoche darstellt. Es wird sich zeigen, ob die Serie derer noch gerecht wird.
Grade hat man sich noch über die käsige dritte Folge ernüchtert und sogleich wird wieder etwas zurückgefahren. Sicher, die Serie wird kein neues Jane Eyre. Derart tiefgehend mit gesellschaftlichem Zeitgeist wird sie sich sehr wahrscheinlich nicht auseinandersetzen, da es vornehmlich die Herzen der Zuschauer erwärmen soll. Speziell bei dieser Folge weiß man vermutlich bereits nach zwei Minuten schon, worauf die Moral der Geschichte hinauslaufen wird. Aber so Textbuch die Aussprache zwischen Iris und ihren Eltern auch sein mag, die Kleinigkeiten drumherum sind wirklich hübsch anzusehen. Violets Art wirkt in dieser Folge mit all ihre sachlichen Faktenauflistungen ziemlich vulkanisch (Star Trek), aber sie lernt schnell. In der ersten Folge war ihr nicht einmal bekannt, dass man sich zur Begrüßung verbeugt. Jetzt stellt sie bereits Ericas Knicks in den Schatten, indem sie ihre Tournüre zur vollen Geltung bringt. Wie viel Zeit ist für die fiktiven Figuren vergangen? Vermutlich gerade einmal ein Monat. (So zum Vergleich: Ein Spock Prime hat etliche Jahrzehnte gebraucht.) Einen schönen Bogen schlagen diesmal die prägnant in den Fokus gesetzten Blumenmotive (Blumensprache war im viktorianischen England eine bedeutende Angelegenheit), um über Iris einen Einblick in Violets Vergangenheit mit Gilbert zu bekommen. Schade finde ich hierbei die doch etwas freie, nicht so ganz durchgehende deutsche Übersetzung der Motive in dessen Bezug. Violet sah sich als sein “Werkzeug” (japanisch “dougu”). In der ersten Folge wurde das Wort in den Untertiteln als “Instrument” übersetzt und in der Synchronisation im Sinne von Eigentum umschrieben. In dieser Folge wird in den deutschen Untertiteln von “Arbeitshilfe” gesprochen, dass das Neutrum eher entfernt und die Synchronisation kehrt es komplett unter den Tisch mit dem “Du wirst ein Mensch sein, der diesen Namens würdig ist”. Im Original ist das ein “Nicht ein Werkzeug, sondern ein Mensch, der zu diesem Namen passt, wirst du werden” und gleichzeitig auch die Übersetzung des Folgentitels (den Netflix wie alle anderen bislang geflissentlich bei der Übersetzung ignoriert). Weiter macht die Synchronisation aus der Dialogzeile “Ich habe zwar kaum Beweise, auf die ich mich stützen kann” zur Mitte der Folge ein “Sie mögen mich für wunderlich halten”, was mir fast persönlich schier abstrus aus Violets Munde derzeit klingt, da sie überhaupt nicht realisiert, wie Menschen sie einschätzen, was zum Ende der Folge noch ein Thema wird. Ebenfalls gibt es noch den deutsch-exklusiven Zusatz “Sie [die Aussicht] ist wunderschön.”, die mich wirklich nur zum Stirnrunzeln bringt. Violet benutzt keine eigenen emotionalen Adjektive. Wenn sie überhaupt Adjektive benutzt, die über die sachliche Berichterstattung hinausgehen, sind das ausschließlich unmittelbar zitierte Worte. Gleiches auch als Iris die Übertreibungen am Anfang der Folge mit “Also das klang für nicht sonderlich aufrichtig” kommentiert, was schon als eine spitzfindige unterschwellige Kritik daher kommt. (Auf japanisch sagt sie “Das war ein ‘Ich habe verstanden’, das eigentlich ein ‘Ich habe nicht verstanden’ ist, nicht wahr?”, was zeigt, dass sie sich stets die Lektion aus der zweiten Folge um das “Menschen sagen das Gegenteil von dem was sie wollen” vor Augen hält.)
Zweite Meinung:
Ich weiß immer weniger, was ich von Violet Evergarden halten soll. Die Folge ist diesmal wieder extrem gut und ich konnte es nicht lassen sie zweimal zu schauen, alleine die Treppen-Szene ist fantastisch animiert. Figuren, denen man abnimmt, dass sie eine Treppe hinuntergehen und nicht schweben, wie es häufig der Fall ist, sieht man viel zu selten. Inzwischen gefällt mir auch Violet als Hauptfigur, sie bekommt langsam ihr eigenes Profil und hebt sich von den vermeintlichen Vorbildern Saber (Fate/stay night), Spock (Star Trek) und Sheldon (The Big Bang Theory) langsam ab. Nur leider werde ich den Eindruck nicht los, dass die Serie konstruiert ist. Hinzukommt noch, dass mir die Welt von Violet Evergarden immer suspekter wird. Die Welt, in der bis vor kurzem Krieg beherrschte, in der Violet ihre beiden Arme verloren, in der Violet als Kind in den Krieg ziehen musste, in der Elend und Armut herrschen müsste, gibt keine Ecken und keine Kanten her. Alle Probleme, die wir aus unserer Geschichte in Verbindung mit Krieg und dessen Folgen kennen, scheint es in der Welt von Violet Evergarden nicht zu geben, was für mich zu stark im Kontrast zum Anfang der Geschichte steht und auch einen zu starken Kontrast zum immer wiederkehrenden Thema der Selbstbestimmung ist. Man will zwar das ältere Publikum erreichen, ihm aber nicht den Schrecken des Krieges zeigen oder den ewigen Kampf nach Gleichberechtigung, deswegen bricht man alles auf einfache Geschichten hinunter, welche für das ältere Publikum fast schon zu einfach sind. Auch hier kommt der Verdacht auf, dass man versucht, es allen recht zu machen und nicht die richtige Mischung gefunden hat.
Die bislang beste Episode. Iris ist eigentlich der interessanteste Charakter der Show und ich mag auch ihr Temperament. Darüber hinaus finde ich auch ihr Charakterdesign sehr ansprechend.
Wenn Violet nicht im Zentrum steht, kann die Serie durchaus angenehm sein.
Bislang ist jede Folge (bis Folge 5) ein Anime-Original gewesen. Die Light Novel Vorlage hat Violet angeblich immer eher im Hintergrund, da die Geschichten später ansetzen, als Violet schon Erfahrungen hat. Ab Folge 5 scheint das nun auf auf den Anime zu zu treffen, trotzdem Anime-Original.
In der neuen AnimaniA ist ein großes Interview mit dem Regisseur. Werde mal schauen, ob es mehr Infos dazu gibt. Aber man merkt schon, dass im Grunde immer die Person im Mittelpunkt steht, deren Geschichte abgehandelt wird, während Violets Entwicklung im Hintergrund abläuft.