16. Elstercon 2022: (N)IRGENDWO (N)IRGENDWANN

Conventions – Wallfahrtsorte für Menschen mit Hobbys. Gleichgesinnte treffen sich und können endlich Deep-Talk über ihr Steckenpferd betreiben; ein Steckenpferd, mit dem sie im handelsüblichen Smalltalk auf der Arbeit wohl schon am ersten Hindernis gescheitert wären. Die Con-Szene ist riesig; es gibt die ganz großen Fische wie die Animagic oder den Comic Con Germany (nicht zu verwechseln mit dem German Comic Con), die jeweils tausende von Besuchern verbuchen, aber auch kleine Cons wie etwa den spezialisierte Elstercon für fantastische Literatur, der trotz wesentlich überschaubarerer Besucherzahl einen bemerkenswerten Stellenwert besitzt, da er Verleihungsort sowohl für den Kurd-Laßwitz-Preis und als auch den Deutschen Science-Fiction-Preis darstellt. Furry-Kostüme und Tanzshows sucht man hier vergebens, dafür gibt es Kaffeerunden mit Autoren, exklusive Einblicke, spannende Vorträge und eine ganz besondere Atmosphäre.

Autoren und Gäste – alle gleich schräg

Der 16. Elstercon, der vom 16. bis 18. September 2022 in Leipzig stattfand, ist etwas Besonderes – nicht nur, weil er nach zwei Jahren Pandemie einem sozialen Befreiungsschlag gleicht, sondern darüber hinaus auch den 30. Jahrestag seiner eigenen Existenz feiert. Einigen mag der Elstercon womöglich kein Begriff sein, doch innerhalb der Szene ist er das trotzig spratzelnde Leuchtfeuer unter den literarische Sci-Fi-Cons, an dem sich schon weit über 100 Autorengäste aus aller Welt niedergelassen haben um sich zu stärken. Prominentes Beispiel: George R. R. Martin. Wären er und sein Zottelbart im Jahre 2000 nicht auf dem Elstercon aufgeschlagen, wäre (ganz ohne Zweifel) »Valar Morghulis« nie zum gefragten Wandtattoo geworden und »Khaleesi« nicht zum Trendnamen für Mädchen. Für das Jahr 2022 waren jedoch andere Sternchen eingeplant. Bei der Eröffnungsveranstaltung stellten Boris Koch und Carsten Steenbergen das sogenannte Utopie-Gremium vor – soll heißen, die (inter)nationalen Autorengäste, die allesamt mit im Publikum saßen, Jasper Fforde sogar ganz bescheiden in der hintersten Reihe. Die »Stars« mit dem »Pöbel« vermischt – diese Beobachtung fasst das grundlegende Gefühl der nächsten zweieinhalb Tage gut zusammen: durch die Bank familiär. Man kennt sich, man grüßt sich, man trifft sich auf dem Flur auf ’nen Kaffe oder zum gemeinsamen Toilettenbesuch. Die »Stars« keine Aliens, sondern ein homogener Teil der Community. Eine ganz besondere Atmosphäre.

Vorträge, Büchershopping und Kommunisten-Aliens

Für den launigen Einstieg in das diesjährige Con-Motto (»Utopie und Humor«) sorgte Verleger und Essayist Arnulf Meifert, der das Publikum mit seinem Vortrag »[N]irgendwo [n]irgendwann« durch alle möglichen (un)sinnigen Formen der Utopie geleitete und auch nicht vor Auszügen aus dem Zeugen-Groschenroman Der Wachturm zurückschreckte, gefolgt von Schriftsteller und Kabarettist Leo Lukas, der aus seinem Lesebuch vorlas, sich aber auch dazu berufen fühlte, die Mini-Steeldrum auszupacken. Auch Lucy Guth, Autorin bei Perry Rhodan Neo, war am Start, um mit Moderatorin Sabine Seyfarth über das Frauenbild im Perry Rhodan-Franchise zu diskutieren, sowie Dietmar Dath, der aus seinem Buch vorlas, das nie fertig werden wird. Manches soll eben eine Verheißung bleiben, gell?

Wer lieber etwas abseits der Veranstaltungen abhängen wollte und zudem einige Münzen locker hatte, der konnte sich auf dem Büchermarkt gütig tun, der von Neu- bis Altauflagen alles für das geneigte Fan-Herz zu bieten hatte. Auch Kleinverlage wie der Memoranda-, Hirnkost- und Lesewuth-Verlag waren vor Ort und hatten so manche Überraschung in petto (etwa die Erstübersetzung von Jeff Vandermeers Veniss Underground, erschienen 2022 im Wandler-Verlag, womöglich von vielen unbemerkt). Unterdessen stellte Biologin und Wissenschaftsjournalistin Bettina Wurche im Großen Saal das Subgenre der Climate Fiction vor, legte eindringlich die Entwicklung der Klimakrisendiskussion sowie deren Festgefahrenheit dar und zog Parallelen zu Kim Stanley Robinson, dessen Romane stets das gegenwärtige Level der Diskussion widerspiegelten. Seinen neusten Roman Das Ministerium für die Zukunft, der später auch den Kurd-Laßwitz-Preis abstauben sollte, legte sie dem Publikum besonders ans Herz.

Nach Wurches Realtalk betrat Autor Karlheinz Steinmüller die Bühne – und mit ihm kamen die Akte X-Vibes. Steinmüller schlug das mysteriöse Kapitel des »Tunguska-Ereignisses« auf, ein bis heute nicht einwandfrei erklärtes historisches Event, welches sich im Jahre 1908 ereignete und seitdem skurrile Kreise durch die damalige Politik bis in die heutige Popkultur hinein zog. Eine äußerst spannend vorgetragene Geschichtsstunde, die zeigte, was passiert, wenn Marxisten auf Außerirdische treffen (»Der Unglaube an Aliens ist nicht mit dem dialektischen Materialismus vereinbar!«)

Plauderstunde mit Fforde und Aaronovitch

Jasper Fforde (Thursday-Next-Reihe) plauderte über seine Zeit als Kameraassistent (Grand Dame Angela Lansbury war der erste Promi, dem er damals einen Kaffee zubereiten durfte) und versorgte das Publikum mit Infos zu seinen zukünftigen Projekten. Fans der Eddie-Russett-Reihe dürfen mit einer Fortsetzung zu Grau rechnen und auch die Anhänger von Thursday Next können sich auf einen achten Band einstellen. Zu guter Letzt las er aus seinem neusten Buch The Constant Rabbit vor (noch nicht in D erschienen). Fforde nennt den Roman sein »Brexit-Anger-Book«, in dem er sich mithilfe von anthropomorphen Kaninchen Luft verschaffe.

Auch Ben Aaronovitch (Die Flüsse von London) plauderte unbekümmert aus dem Nähkästchen, verriet sein gut gehütetes Lebensmotto (»Vermeiden von Arbeit ist Trumpf«) und gab den selbstironischen Tipp, dass man als Schriftsteller über das Talent verfügen sollte, Fakten zu ignorieren: »Man muss vor allem glauben … – nämlich daran, dass es Leute gibt, die das eigene Zeug lesen wollen.« Und wie schaut’s mit einer Serie-Adaption zu Die Flüsse von London aus? Nun, Optionen dazu gäbe es seit 2012, doch seien diese bislang eher mäßig gewesen. Vielleicht erscheint die Serie in einem Jahr, vielleicht in zehn, vielleicht gar nicht. Auch sie bleibt eine Verheißung, oder, wie Aaronovitch es nennt: »Schrödinger’s TV-Series«.

Killerbot kommt wieder

Ehrengast Martha Wells (Tagebuch eines Killerbots), die mittlerweile so viele Preise abgesahnt hat, dass sie davon Abstand nimmt, weitere Preisverleihungen zu besuchen, einfach, damit auch mal die anderen am Zug sein können, las aus ihrer noch nicht fertigen Killerbot-Geschichte System Collapse vor – eine Premiere. Selig waren jene Wells-Fans, die dem Technik-Talk auf Englisch folgen konnten. Alle anderen (ich, Anm. d. Red.) erfreuten sich daran, zumindest verstanden zu haben, dass Killerbot und Fifo sich wie gewohnt in die Wolle kriegen. Terminiert sei der neue Band aber noch nicht. Herbst 2023 stehe im Raum, doch zuvor erscheine im Mai 2023 erst einmal Witch King, Wells erster Fantasy-Roman seit über zehn Jahren.

Debatten über Humor und Utopie

Wer für intellektuellen Tiefgang zu haben war, der konnte den Diskussionsforen beiwohnen. Das Herren-Panel versuchte sich an der Quantifizierung und Aufschlüsselung von »Humor«. Dabei bewegten sich Autor (und PARTEI-Mitglied) Uwe Post, Leo Lukas, sowie Ben Aaronovitch und Jasper Fforde unter der beredeten Anleitung von Dietmar Dath durch ein weites Feld, irgendwo zwischen Spartacus-Witzen, Leo Lukas‘ »Bermudadreieck des Humors« und versuchten Schwarzenegger-Imitationen. Was ist denn eigentlich dieser Humor? Nach einem ausschweifenden Monolog fasste Fforde seine Erkenntnis mit einem »I don’t know« zusammen, was an sich schon wieder äußerst humorvoll ist.

Einer der vielen Versuche, Dietmar Dath mit Zeitansagen Einhalt zu gebieten

Während die Männer in der Witzkiste feststeckten, grübelten die Frauen indes über die Zukunft und diskutierten, inwieweit Wissenschaft und Fiktion voneinander profitieren können; inwiefern eine Symbiose zwischen wissenschaftlichem und narrativem Denken für beide Seiten von Vorteil ist. Emma Braslavsky (Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten) wünschte sich, dass Wissenschaftler zunächst einmal »Storyteller« werden würden, ehe sie sich ins Forschungsgetümmel werfen. Und während Deutsche eher zur Dystopie neigten, so konstatierte Theresa Hannig (Die Optimierer), dass wir unbedingt mehr Utopien benötigten. Letztendliche konnte sich das Panel darauf einigen, dass man, wenn schon nicht utopisch, so doch wenigstens »anti-dystopisch« schreiben könne, angestoßen durch Dr. Isabella Hermann, die diesen Begriff in ihrem Artikel für die Zeitschrift für Fantastikforschung einführte (und der nebenbei auch im Conbuch nachzulesen ist). Utopien seien unerreichbar, Dystopien desaströs; jenseits davon erwarte uns die »Anti-Dystopie« – quasi Realistensprech.

Das Conbuch für die Ewigkeit

Freilich konnte man auf dem Con nicht alles mitnehmen, was ging. Manche Veranstaltungen liefen parallel. Während im Großen Saal Emma Braslavsky Anekdoten über die »Sudetendeutsche-Guerilla der DDR« aus dem Ärmel schüttelte, wurde in Saal 1 durch Stefan Pannor erörtert, wie Micky Maus in der Science-Fiction gelandet ist. Während das Perry Rhodan-Panel um Lucy Guth, Robert Corvus und Leo Lukas (Moderation: Ute Müller) die Frage diskutierte, ob der altgediente Terraner überhaupt noch ein Vertreter der Utopie ist, wurden nebenan durch den Hirnkost-Verlag SF-Schätze der Weimarer Republik ausgegraben. Viel los auf dem Elstercon.

Was bleibt? Neben den schönen Erinnerungen und neuen Bekanntschaften freilich das Conheft (richtiger wäre wohl das Con’buch‘). Anders als manch andere Conhefte, bestehend aus labberigen Seiten, von denen ⅖ mit Sponsoren zugeklebt sind und ansonsten Wegbeschreibungen den meisten Platz einnehmen, knallt einem der Elstercon einen echten Schmöker mit über 500 Seiten auf den Tisch – auch als Hardcover. Mit Artikeln, Interviews, Rezensionen, Kurzgeschichten, wissenschaftlichen Essays, etlichen Bildern und für die Sammler unter uns mit einer Extra-Seite für Autogramme. Insgesamt echte Fachlektüre und freilich komplett in Technicolor. Ein wunderbarer Begleitband und in seiner Qualität oberste Liga.

Fazit

Kurz gesagt: Absolut dufte.
Lang gesagt: Ich betrat den Elstercon ohne konkrete Vorstellungen und wurde mit einem ungewohnt familiären Happening überrascht. Der Elstercon ist ein schützender Kokon, in dem Gäste wie auch Autoren auf der selben Welle surfen und miteinander herum spinnen können. Erwähnt seien hier vor allem die vielen Organisatoren, deren entspannte Haltung sich wie von selbst auf die Gäste übertragen hat und damit viel zur jener Atmosphäre beitrugen, in der man sich ungeniert kennenlernen konnte. Niemals hätte ich mir ausgemalt, dass ich beim Hotelfrühstück mit zwei Con-Besuchern ins Gespräch komme, dabei über das Cover von Ursula K. Le Guins Verlorene Paradiese herziehe (Stichwort »richtig hässlich«) und sich dann herausstellt, dass ausgerechnet mein Gegenüber der Übersetzer eben jener Novelle ist und der das Cover eigentlich ganz schick findet. Überall diese Fettnäpfchen, nech? Nun ja, wie auch immer, wir sind jetzt E-Mail-Freunde und vielleicht sieht man sich beim nächsten Elstercon wieder.

An dieser Stelle möchte ich mich nochmal bei Thomas Braatz bedanken, Chef-Organisator und Vorsitzender des Freundeskreis Science Fiction Leipzig e.V., der meine Teilnahme möglich gemacht und mich sehr freundlich empfangen hat.

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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