90 Jahre Tim und Struppi – Ein Blick auf die ersten Abenteuer
Im Jahr 2019 jährt sich zum 90. Mal der Tag, an dem der belgische Zeichner Hergé das erste Mal den junge Reporter Tim zeichnete. Was als Comic begann, sollte schon bald in anderen Medien adaptiert werden und sie alle sollten den Status von Tim und Struppi als Klassiker der europäischen Comic-Kunst zementieren. Doch während die Animationsserie, Filme und Videospiele die Bekanntheit weltweit gesteigert haben, begann alles mit den ersten beiden Bänden die trotz – oder gerade wegen – fragwürdiger Darstellungen etwas näher beleuchtet werden sollen.
Hergé konnte im Jahre 1929 noch nicht wissen, was er mit seinen Les Aventures de Tintin, wie die Serie im Original heißt, für einen Einfluss auf die Welt des Geschichtenerzählens haben würde. Tintin/Tim sollte nicht nur einer der ersten Comics sein, der Sprechblasen verwendete, sondern auch ein weltweites Phänomen, das viele Künstler aus unterschiedlichsten Sparten beeinflussen würde – unter anderem Andy Warhol (Pop-Art-Künstler, Filmemacher und Verleger) und Geoff Darrow (Shaolin Cowboy). Gerade aus heutiger Sicht müssen sich vor allem die ersten beiden Bände, Tim im Lande der Sowjets und Tim im Kongo, immer wieder negativer Kritik stellen und werden oft als die schwächsten der gesamten Reihe genannt. Das bedarf einer genaueren Analyse.
Tim bei den schwarz-weißen Sowjets
Dass selbst Hergé nicht zufrieden mit dem Inhalt war, zeigen zwei Dinge: Erstens: Nachdem die Anzahl der Raubdrucke Überhand nahm, erlaubte Hergé 1973 den Band offiziell nachzudrucken. Zweitens: Selbst dann weigerte er sich, den Band zu kolorieren oder zu überarbeiten, wie er es zuvor bei den später erschienen Geschichten getan hatte. Erst 2017 wurde der Band schließlich koloriert, über 30 Jahre nach Hergés Tod. Er selbst bezeichnete diese erste Geschichte als “Jugendsünde”. Wenn man den Band dann liest, merkt man auch, warum Hergé etwas Abstand von der Geschichte wollte und erst das nächste Abenteuer zum offiziellen Band 1 werden ließ.
Die Abenteuer des unsterblichen Tims
Tim zeigt in dieser ersten Geschichte Fähigkeiten, die ihn mehr als nur übermenschlich wirken lassen. Gleich zu Beginn wird er z.B. während einer Zugfahrt in die Luft gesprengt. Er und seiner treuer Hund Struppi überleben, allerdings segnen die restlichen Passagiere das Zeitliche. Im Laufe des Abenteuers wird Tim auch eingefroren, von einem Zug erfasst und bekämpft einen Bären mit bloßen Händen. All das übersteht er relativ unverletzt. Dazu kommen noch weitere technische Meisterleistungen wie das Schnitzen eines Flugzeugpropellers oder das komplette Aus- und Wiedereinbauen eines Automotors. Die Handlung folgt leider immer dem gleichen Muster: Tim wird von den Sowjets angegriffen/verfolgt/gefangen; Tim kann entkommen/sich befreien. Und das wiederholt sich mehrfach.
Die Reise durch ein nicht funktionierendes Land
Tim und Struppi überleben auf ihrer Reise durch die Sowjetunion nicht nur alle möglichen Explosionen und Unfälle, sie sehen auch wie das Land funktioniert (oder nicht funktioniert). Wahlen, die unter Zwang passieren, das Bestehlen des Volkes – Tim versucht zumindest teilweise zu helfen. Immer wieder wird er aber von Agenten daran gehindert und kämpft sich am Ende zurück nach Belgien, wo er in Brüssel unter tosendem Applaus bereits erwartet wird. Auch die nächste Geschichte, Tim im Kongo, musste im Laufe der Zeit viel Kritik einstecken und wurde mehrfach überarbeitet.
Fragwürdige Darstellung des Schwarzen Kontinents
Die Reise auf dem Schiff Richtung Kongo ist recht abwechslungsreich und gerade Struppi darf als Vehikel für viele der Handlungen auf dem Schiff fungieren. Ein Kampf mit einem Papagei, Besuch beim Doktor und sogar das Finden eines blinden Passagiers, all das darf der kleine Vierbeiner erleben. Der blinde Passagier wird sogar noch wichtig für den Rest der Geschichte. Im Kongo angekommen, sieht und liest man als Leser aber gleich wieso heutzutage mit kritischen Augen auf dieses Album geschielt wird: die Darstellung der schwarzen Ureinwohner. Dicke Lippen, oft fast schon einem Affen ähnlich gezeichnet und Sprachmuster, die den geringen Intellekt der “Wilden” zeigen soll. In der deutschen Übersetzung wird dafür das Wort “Dingsbums” benutzt, das einfach in normale Sätze eingefügt wird. Dazu kommen noch die Taten von Tim, die ebenfalls seltsam anmuten, gerade wenn man nur die neueren Geschichten kennt.
Tim, der Großwildschlächter
Wenn man sieht, wie die Geschichte abläuft, könnte man meinen Tim, habe ernsthafte psychische Probleme. Er tötet eine ganze Horde von Antilopen, weil er glaubt immer zu verfehlen, nimmt dann aber alle mit, weil sie ja trotzdem Fleisch sind. Er tötet einen Affen, häutet ihn und zieht sich dessen Haut dann an, um von einem anderen Affen Struppi zurückzubekommen. Auch weitere Tiere werden von ihm getötet oder gequält und es stellt sich beim Lesen doch mehrmals die Frage, worum es in dem Album letztlich geht. Der blinde Passagier spielt eine Rolle. Ein Killer geschickt von Al Capone, der sich um Tim “kümmern” soll. Mit allem was dazwischen passiert, zieht sich leider alles wie Kaugummi und es bleibt die Frage was zwischen all den toten Tieren, rassistischen Stereotypen und die Handlung nicht vorantreibenden Seiten übrig bleibt.
Die ersten beiden Bände sind ganz eindeutig ein Kind ihrer Zeit. Hergé selbst war immer kritisch gegenüber seinen ersten Geschichten und beim Lesen ist mir klar geworden, warum diese beiden Alben nie adaptiert wurden. Wo später gut geplante Geschichten auf Hergés Zeichenkunst trafen, scheinen die ersten Bände wie eine Sandkiste, in der Hergé mit Tim und Struppi experimentierte. Die vielen Wiederholungen in der Handlung, die schlecht recherchierten Fakten und die vielen Stereotypen trübten mein Lesevergnügen immens. Einiges davon kann man abtun, in der Menge ist es leider schwer zu überlesen. Wer Hergés Entwicklung und auch jene der Serie über die Zeit sehen will sollte sie natürlich trotzdem lesen, anderen würde ich empfehlen mit einem anderen Album zu starten oder die Animationsserie aus den 1990ern anzusehen, die auch komplett auf Netflix zu finden ist. Die 90 Jahre merkt man den ersten beiden Bänden leider mehr als deutlich an, sie bleiben natürlich trotzdem ein wichtiges Stück Comic-Geschichte.