Das Genre unter der Lupe: Cyberpunk

Die Punk-Genres: Für manche ein Klacks, für andere ein undefinierbares Genre-Chaos. Jeder Punk konzentriert sich für gewöhnlich auf eine bestimmte Ressource. Der Steampunk ist in Welten heimisch, die auf Dampfkraft setzen. Den Dieselpunk findet man vor allem in der Zwischenkriegszeit mit all ihrem Dieselkraftstoff. Atompunk? Natürlich Kalter Krieg. Biopunk deckt eine Welt ab, in der Gentechnik und »Splicen« an der Tagesordnung stehen. Und was macht der Cyberpunk noch gleich? Der schaut voraus in eine dunkle, voll technisierte Zukunft, in der sich der Mensch allmählich auflöst. In diesem Teil unserer Feature-Serie wenden wir uns dem Cyberpunk zu und versuchen zu ergründen, was hinter diesem rebellischen Genre steckt.

Am Anfang waren die Mirrorshades

Das Auftauchen des Cyberpunks wird häufig mit dem Zusammentreffen einer bestimmten Autorengruppe in den 1980ern verbunden, bestehend aus William Gibson, Bruce Sterling, Lewis Shiner, John Shirley und Rudy Rucker. Diese Männer bildeten einen Kader gleichgesinnter Sci-Fi-Autoren, die gegen die althergebrachte Science-Fiction aufbegehrten und ihrer abgedroschenen Unzulänglichkeiten überdrüssig waren. Immerzu rosige Weltraumabenteuer in weit weit entfernten Galaxien, immerzu Captain Kirk, der grünhäutige Bardamen abschleppt. Der Kader schrieb es sich auf die Fahne, anders zu erzählen und erschuf so nach und nach ein eigenes Subgenre; eines, das idealistische Utopien ablehnte und stattdessen auf Anti-Establishment-Kultur setzte. Die rosige Zukunftsvision wurde mit Schmutz, Sex, Drogen, Regen und Neonfarben verunreinigt und von einem Spätkapitalismus dominiert, dem stets zu misstrauen ist.

Die Männer bewunderten die Arbeit des jeweils anderen und spornten einander an; sie befruchteten ihre gemeinsame Vision und veröffentlichten rege ihre Geschichten. Um ihre Zugehörigkeit zu verdeutlichen, begannen sie regelmäßig gemeinsam auf Conventions aufzutreten; mit Lederjacken und verspiegelten Sonnenbrillen. Daraus ergab sich auch die Selbstbezeichnung »Mirrorshades-group« (dt. »Spiegelschatten-Gruppe«) – quasi eine avantgardistische Underdog-Bewegung. Die von ihnen verfasste Anthologie Spiegelschatten. Die große Cyberpunk-Anthologie (1986) wurde zu ihrem Manifest.

Night City aus Cyberpunk 2077 – eine typische cyberpunk'sche Megastruktur; © CD Project Red

Der Begriff »Cyberpunk«

Die Mirrorshades gebaren also ein neues Subgenre, doch dafür, dass das Genre »Cyberpunk« genannt wurde, waren sie nicht verantwortlich. Der Begriff »Cyberpunk« tauchte das erste Mal im Jahre 1983 auf; damals veröffentlichte der US-amerikanischen Sci-Fi-Autor Bruce Bethke unter eben diesem Titel eine Kurzgeschichte. In Bethkes Cyberpunk wird die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen erzählt, die sich in verschiedene Computer hackt. »Cyber« bezieht sich dabei auf die Computertechnik, wohingegen das »punk« die rebellischen Jugendlichen meint. Obwohl Bethke nichts mit Sterling und seiner Mirrorshades-group zu tun hatte, spiegelt seine Kurzgeschichte doch genau das wieder, was sich die Mirrorshades unter der neuen radikalen Science-Fiction vorstellten.

Das erkannte auch der Sci-Fi-Verleger und Kritiker Gardner Dozois und so kam es, dass er im Vorwort von The Year’s Best Science Fiction: Annual Collection im Jahre 1985 die neue Bewegung um Gibson, Sterling und Co vorstellte und sie mit »Cyberpunk« umschrieb. Der Name war dabei so schmissig, dass er sich schnell durchsetzte und andere Vorschläge wie »radical hard SF« oder eben »The [Mirrorshade-]Movement« verdrängte.

Die Cyberpunk-Literatur erfreute sich großer Beliebtheit und bald schon wurden ihre Elemente zu stereotypen Tropes, die über die Literaturgrenzen hinaus wuchsen und Filme, Games, Anime, Musik und Mode eroberten.

Frühe Entwürfe des Protagonisten Jack aus dem Game Ghostrunner und gleichzeitig ein modernes Beispiel für den Menschen im Cyberpunk. Er trägt urbane Techwear und Cyberimplantate. Artist: Marcin Rubinkowski; © 505 Games, All in! Games

Merkmale des Cyberpunks

In der klassischen Science-Fiction werden zumeist visionäre Zukunftswelten entwickelt, in denen vor allem die technischen Neuerungen im Vordergrund stehen. Die Geschichten haben dabei kaum mehr etwas mit unserer Gegenwart gemein und liegen zeitlich sehr weit von uns entfernt, da sie von technologischen Prämissen ausgehen, die freilich erst einmal einer jahrhundertelangen Entwicklung bedürfen. Das Hauptaugenmerk liegt also auf der Spielwiese der technischen Gimmicks, während der Blick auf den sozialen Kontext (also Politik, Gesellschaft, Kultur etc.) eher zweitrangig ist, so dass für die Darstellung von Kulturen, Figuren und dem Weltendesign gerne idealtypische Schablonen herangezogen werden.

Der Cyberpunk hingegen setzt genau auf das, was von der klassischen Science-Fiction vernachlässigt wird; er bezieht sich auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen und Konzepte und entwickelt quasi eine Trendanalyse jener Konzepte für die nahe Zukunft. Die Cyberpunk-Autor:innen formen eine »Zukunft, die sich erkennbar von modernen Verhältnissen ableitet« ( – Bruce Sterling, aus seinem Vorwort zu Gibsons Cyberspace).

Die typische Cyberpunk-Ästhetik setzt sich aus (post-)industriellen Städten, Smog, Leuchtreklame (gerne mit chinesischen Schriftzeichen) und elektronischen Abfällen zusammen. Die Regierungen sind häufig totalitär oder aber in Bestechungsskandale verwickelt, da die eigentliche Macht bei den komplett entfesselten Konzernen liegt. Die Hochtechnologie wird sowohl vom Staat als auch von den Konzernen aus unethischer Profitgier missbraucht und für die soziale Kontrolle der Gesellschaft genutzt. Wir sprechen hier von entartetem Kapitalismus, denn während es auf den oberen Gesellschaftsebenen hoch her geht, sind die unteren Klassen hart gebeutelt und krepeln an der Existenzgrenze herum. Auch, da es im Cyberpunk eine lebhafte Unterwelt aus organisiertem Verbrechen, Drogeneklans und Bandenkriegen gibt. Was die Polizei anbetrifft: bei der ist es zumeist unklar, ob sie für den Staat oder die Konzerne arbeitet.

Der Alltag selbst ist von Technologien durchdrungen; jeder Lebensbereich des Menschen wird von ihr geprägt, sodass sich die humane Gesellschaft in einem Zustand der Auflösung befindet. Die Grenze zwischen Technik und Mensch verschwindet. Die menschliche Physis wird durch Augmente/Cyberimplantate erweitert und verbessert und sogar eine Direktschalte zwischen Gehirn und Computer ist möglich, welche die Wahrnehmung erweitert oder gleich Zugang zu einem weltumfassenden »Cyberspace« ermöglicht. Durch diese Körper- bzw. Geistinvasion durch Technik stellt sich immerzu die Frage, was Menschlichkeit definiert und welche Bedeutung sie vor dem Hintergrund einer hochtechnologisierten Welt hat.
Das macht den Cyberpunk auch zum Spielfeld des trans- und posthumanen Diskurses. Im Posthumanismus wird das gegenwärtige menschliche Stadium hinterfragt und dessen Überwindung diskutiert, während der Transhumanismus bestrebt ist, die menschlichen Grenzen durch (Bio-)Technologie zu erweitern.

Insgesamt geht es beim Cyberpunk also um gesellschaftliche und individuelle Ängste vor technologischer Entwicklung. Mit all seinem Pessimismus, Fatalismus und Zynismus, fühlt sich der Cyberpunk daher auch häufig wie ein postmoderner Vertreter des Film noir an. Aus diesem Grunde kommen manche Geschichten auch im Gewand eines hardboiled Krimis daher (wie etwa Blade Runner, s.u.).

Freilich müssen all diese aufgezählten Merkmale nicht simultan auftreten. Manche Cyberpunk-Geschichten spielen nicht wie gewohnt in verregneten Monsterstädten und verfügen auch über keinen Cyberspace, in den sich alle Welt einklinkt. Nehmen wir Titel wie Minority Report oder SOMA (auf die später noch eingegangen wird): Sie setzen das Genre visuell wesentlich diskreter um, vereinen aber ansonsten genug wichtige Komponente, um als Cyberpunk zu gelten.

Das verlorene Individuum vor dem Hintergrund einer Megastadt. Auf dem Boden ist der typische Cyberpunk-Pessimismus zu lesen; © CD Project Red

Cyberpunk in den Medien: Bücher

William Gibsons Neuromancer-Trilogie (1985–1989) gilt immer noch als der wahre Inbegriff des Cyberpunks – sie ist quasi sein Ur-Backförmchen. Die Welt ist von Technik und Medien zersetzt und die Figuren schnorcheln inmitten von sozialem Verfall und düsterem Zwielicht am Boden der post-industriellen Städte herum. Vor allem aber ist die Neuromancer-Reihe die Geburtsstätte des »Cyberspace« – jenes Computernetzwerk, in das sich Menschen über Schnittstellen am eigenen Körper einklinken können. Hier wurde der Cyberspace erfunden und ist seitdem nicht mehr aus dem Cyberpunk-Genre wegzudenken. 

Die 1973 erschienene Novelle Das eingeschaltete Mädchen von James Tiptree Jr. könnte man als Proto-Cyberpunk begreifen. Sie erzählt die Geschichte der »abscheulich hässlichen« Philadelphia Burke, der von einem Medienkonzern angeboten wird, nackig in eine Kabine gesperrt und per Gehirndirektschalte den künstlichen Körper eines Filmsternchens zu steuern. Damit nimmt Tiptree nicht nur die Instagram-Influencer-Kultur vorweg, sondern auch viel von dem, was späterhin als Cyberpunk bezeichnet wird. Die Novelle ist Teil des Tiptree-Erzählbandes Liebe ist der Plan, erschienen 2015 beim Septime Verlag.

Das Unsterblichkeitsprogramm (2002, Original: Altered Carbon) ist der Debütroman von Richard K. Morgan. Ein Cyberpunk-Krimi, in dem Protagonist Kovacs (eine Art Detektiv) zwangsengagiert wird, um den Mord an einem Superreichen aufzuklären – und zwar vom Ermordeten selbst. Durch ein Implantat im Genick, durch welches Erinnerungen und Persönlichkeitsmuster gespeichert und in andere Körper transferiert werden können, ist es solchen, die genug Geld haben, möglich, hunderte Jahre lang zu leben – während der Pöbel natürlich im Dreck der Megastädte versauert. Das Unsterblichkeitsprogramm ist ein Callback zum klassischen Neuromancer-Cyberpunk und bezieht gleichzeitig Ideen und Themen aus modernen Forschungsfeldern ein. Von 2018 bis 2020 adaptierte Netflix den Stoff unter seinem Originaltitel als Serie. 

Das Cover der französischen Edition von Gibsons Neuromancer-Trilogie; © Au Diable Vauvert

Cyberpunk in den Medien: Filme

Der Kult-Klassiker Blade Runner (1982) definierte die allgemeingültige visuelle Sprache des Cyberpunks. In einem noir-typisch verregneten Moloch macht Harrison Ford in der Rolle eines Blade Runners Jagd auf autarke und gefährliche Replikanten (= Androiden) und verliebt sich gleichzeitig in eine Replikantin. Eine tragische Liebe gepaart mit einer Hardboiled-Detektive-Story. An den Kinokassen floppte der Film, doch 25 Jahre später gehörte Blade Runner zur Meisterklasse. 2017 folgte die Fortsetzung Blade Runner 2049 von Regisseur Denis Villeneuve. Villeneuve zeichnet sich für tiefschürfende, kontemplative Sci-Fi aus (wie in Arrival) und gibt auch seiner Blade Runner-Version eine ruhige Intensität. Allerdings lässt er auch seine Action-Muskeln spielen. Insgesamt wirkt der Nachfolger wesentlich dynamischer. 

Der Blockbuster Minority Report (2002) adaptiert eine Kurzgeschichte von Philip K. Dick und wurde von Steven Spielberg und Tom Cruise zu Leben erweckt. Der Film erzählt von einem integren, aber gebrochenen Cop, der gezwungen wird, zu fliehen und seinen Namen reinzuwaschen, da er eines Mordes bezichtigt wird, den er nicht gegangen hat. Doch eine präkognitive Vision sagt voraus, dass er es tun wird. Die Natur des freien Willens bildet also den philosophischen Kern des Films, während der ganze Rest in einem Techn-Noir-Setting eingebettet wird. Minority Report setzt auf eine »sich natürlich entwickelnde Zukunft« und versucht, das Washington D.C. aus dem Jahre 2054 realistisch darzustellen. Heißt also, dass es keine exzentrischen neonfarbenen Hochhäuser gibt. Dafür aber viele andere cyberpunk’sche Schlüsselelemente. Im Gegensatz zu Blade Runner ist Minority Report ganz klar ein Vertreter des »guten Cyberpunks« (stammt ja auch von Spielberg). Klar, es ist ein kapitalistischer Alptraum, aber immerhin das Best Case-Szenario eines kapitalistischen Alptraums.

In Robocop (1987) wird ein ermordeter Polizist als Cyborg wiedergeboren. Ohne Erinnerungen wird er zur ultimativen Waffe des herrschenden Konzerns OCP, um gegen Kriminelle vorzugehen. Doch seine Erinnerungen kommen zurück und mit ihnen der Verdacht, dass der Konzern selber für seine Ermordung verantwortlich ist. Alita: Battle Angel (2019) ist die Adaption eines Cyberpunk-Mangas. Der Film untersucht Motive wie Rache, Identität und die Unterdrückung durch Konzerne. Alita selber ist mit ihrer naiv-optimistischen Sichtweise nicht die typische Cyberpunk-Heldin. Sie stellt sich der Korruption der Stadt entgegen anstatt fatalistisch ein Teil von ihr zu werden. Den konventionellen Noir-Protagonisten findet man da schon eher im Trenchcoat tragenden Dr. Dyson Ido (Christoph Waltz), der auf die Straßen geht, um seine verstorbene Tochter zu rächen.

Neonfarbene Hologramme in Blade Runner 2049; © Sony Pictures Home Entertainment

Cyberpunk in den Medien: Anime

Der Cyberpunk ging auch nicht an der anderen Seite der Welt vorüber. Japan übernahm die Blade Runner-Optik und brachte in den 80er und 90ern viele Kult-Anime mit stark präsenten Cyberpunk-Themen heraus. Es kam zur Etablierung einer ganz eigenen Anime-Cyberpunk-Ästhetik.

Das 1988 erschienene Akira vermischt Cyberpunk-Elemente mit dem Body-Horror. Der Anime-Film spielt 30 Jahre nach dem Dritten Weltkrieg im futuristischen Neo-Tokio und erzählt die Geschichte zweier krimineller Biker-Jungspunde, die unfreiwillig Teil eines Militärexperiments werden, welches beängstigende Psy-Kräfte bei einem von den beiden hervorruft. Akira vereint unzählige Cyberpunk-Tropes: fehlgeschlagene Laborexperimente, überstilisierte Motorräder und das Wiederauferstehen einer Moloch-Stadt nach einem kataklystischen Ereignis – einer Stadt, die von Terrorismus, Korruption und anti-autoritären Protesten zerrissen wird.

Ghost in the Shell (1995) gilt als der einer einflussreichsten und größten Anime-Filme aller Zeiten. Basierend auf dem gleichnamigen Manga, folgt die Adaption der Geschichte von Major Kusanagi, einem Cyborg, der für die geheim operierende Sektion 9 arbeitet. In einem von Hong Kong inspirierten Moloch versucht der Major den sogenannten »Puppet Muster« dingfest zu machen – einen Hacker, der sich in die Gehirne von Bürgern und Politikern einklinkt, um einen mysteriösen Plan umzusetzen. GitS wird nicht nur für die visuelle Darstellung gelobt, sondern auch für seine Tiefsinnigkeit. Der Film erforscht das beängstigende Konzept des »Gehirnhackings«: Wie ist es, kabellos von irgendwo falsche Erinnerungen eingepflanzt zu bekommen und zum willenlosen Sklaven zu werden? Auch geht es um das Thema Fortpflanzung in einer Welt, in der sexuelle Reproduktion der technischen/digitalen Replikation gewichen ist und in der die Gesellschaft so sehr auf technologischen Fortschritt bedacht ist, dass sie die sozialen Probleme ignoriert.

Serial Experiments Lain (1998) ist eine psychedelische Serie über ein schüchternes Schulmädchen, das allmählich begreift, dass sie nicht das ist, was sie zu sein scheint. Nachdem sie sich einen Computer besorgt und sich mit einem Netzwerk verbunden hat, das weitaus umfassender ist als das Internet, beginnt sie zu begreifen, dass die Realität und das eigene Selbst auf vielen unterschiedlichen Ebenen existieren. Serial Experiments Lains Erzählart ist dabei ziemlich fragmentiert, sodass das Publikum die Handlung selbst rekonstruieren muss. Die Serie verfügt über eine einnehmende Atmosphäre und geizt nicht mit langen Einstellungen, in denen man nur das Summen jener elektrischer Freileitungen hört, die überall über der Stadt verlaufen und die Bewohner einzusperren scheinen. Der Name ist hier Programm: experimentell.

Ein Moment des »Gehirnhackings« in Ghost in the Shell; © Nipponart

Cyberpunk in den Medien: Games

Videospiele sind als Medium bestens dafür gerüstet, den Cyberpunk’schen Spirit zu vertreten. Laut dem Soziologen Mike Featherstone »ist es der Traum der Cyberkultur, das ‘Fleisch’ hinter sich zu lassen und in einer reinen, unverfälschten Beziehung zur Computertechnologie zu destillieren.« Das Eintauchen in den digitalen Äther verändere unser Bewusstsein und lässt uns zu unserem Avatar werden – was ja quasi die Quintessenz des gemeinen Videospiels darstellt. 

Obsever: System Redux (2020) spielt im gebeutelten Krakau des Jahres 2084. Zuerst raffte die »Nanophage«, eine digitale Seuche, tausende von Menschen mit Cyberimplantaten dahin, danach folgten Krieg, noch mehr Tote und zügelloser Drogenkonsum. Großkonzerne nutzten das Chaos, um die Macht zu übernehmen. Aus der First Person-Perspektive steuert man Daniel Lazarski, einen Neuraldetektiv (aka Observer), der sich mithilfe des Traumfresser-Implantats die Gedanken anderer Menschen hacken kann. Observer sind gefürchtet und verachtet, da sie als Werkzeug der Unterdrückung durch die Konzerne angesehen werden. Das Game zelebriert die Cyberpunk-Ästhetik von Blade Runner: Es herrscht Dauermonsun, Werbetafeln mit grinsenden Frauen heben sich vor einem dunklen Himmel ab und die verrottende Struktur der Gebäude wird mit holografischer Schminke übertüncht. Rutger Hauer (der den Replikanten Roy in Blade Runner spielt) verleiht dem Protagonisten sogar Stimme und Aussehen und es gibt eine direkte Roy-Referenz. Am eindrucksvollsten sind aber die Traumfresser-Sequenzen, in denen sich Lazarski in das Gehirn anderer Menschen hackt: Spannende, geradezu soghafte Passagen, die erstaunen und erschrecken und der Inbegriff von Psychoterror sind.

SOMA (2015) erforscht unsere Ängste davor, was passiert, wenn die Technologie den Menschen ersetzt. Das Game betritt ein sehr dunkles Terrain unterhalb des Meeresspiegels (wortwörtlich) und stellt uns vor Fragen und ethische Dilemmata, die üblich sind für den post- oder transhumanen Diskurs. SOMA erinnert uns an die Vergänglichkeit der Natur und des Bewusstseins und fragt, was es bedeutet, lebendig, bewusst und/oder menschlich zu sein.

Cyberpunk 2077 ist eine wahre Piñata an Cyberpunk-Tropes, als da wären: die Kombination aus fortschrittlichster Hochtechnologie bei gleichzeitiger Verrottung der Gesellschaft; Megakonzerne, die jeden Lebensaspekt der Bewohner von Night City beherrschen; das Hacken fremder Gehirne; autarke K.I.s; virtuelle Realität; eine Hauptfigur, deren Gehirn von einer anderen Identität überschrieben wird; kultische Selbstmörder, die ihr Empfinden während des Sterbens aufnehmen, damit dieses auf Speichermedien gepresst, verkauft und von Konsumenten immer wieder durchlebt werden kann; und natürlich eine Blade Runner-Referenz, wenn man nur akribisch genug die Dächer von Night City absucht. Aufgrund der schieren Masse an Tropes, konnten die Entwickler:innen nicht jedes gleich intensiv betrachten, doch wer einmal den kompletten Rundumschlag will, der ist bei Cyberpunk 2077 genau richtig aufgehoben.

Die berühmte »Tears in rain«-Szene aus Blade Runner. Sowohl in Observer: System Redux (hier dargestellt) als auch in Cyberpunk 2077 kann man sie als Easter Egg finden; © Aspyr

Gesichtete Werke und/oder weiterführende Literatur:

1. Gözen, Jiré Emine, Cyberpunk Science Fiction – Literarische Fiktion und Medientheorie (2012), Transcript Verlag. 
2. Featherstone, Mike, and Roger Burrows, Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk: Cultures of Technological Embodiment (1996), Sage Publications UK. 
3. Haar, Rebecca, Simulation und virtuelle Welten: Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne (2019), Transcript Verlag.

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