Wir müssen reden: Warum Streaming kein Kino ersetzen kann
Wir schreiben Juni 2021 und allmählich öffnen die nun mehr als ein halbes Jahr wegen der Corona-Pandemie geschlossenen Kinos wieder. Dabei hatten es die Lichtspielhäuser schon seit dem Frühjahr 2020 nicht leicht, waren immer wieder monatelang geschlossen und lediglich im Sommer 2020 war es möglich, unter Hygienemaßnahmen über einen längeren Zeitraum die neusten Streifen anzubieten. Mit nur einem Blockbuster (Tenet), denn die angekündigten Kassenschlager James Bond 007: Keine Zeit zum Sterben (ein Titel, der angesichts der vielen Verschiebungen passender erscheint, als wohl ursprünglich geplant) und Black Widow waren damals beide noch auf den Herbst 2020 datiert. Für Kino-Liebhaber ist das natürlich kein Beinbruch, denn Filme wie Marie Curie – Elemente des Lebens standen ja immer noch im sommerlichen Kino-Programm. Nur ganz unabhängig der Qualität bringen eben nur Blockbuster die Massen ins Kino und somit das dringend benötigte Geld in die Kino-Kassen.
Die geschlossenen Pforten der Kinos sind in Zeiten von Streaming-Diensten und Pay-TV kein Hindernis mehr. Ein Beispiel dafür ist Wonder Woman 1984, das in den USA zeitgleich auf HBO Max und Kinoleinwänden anlief (ein simultanes Konzept, das Warner Bros. aktuell bei all seinen regulären Blockbustern verfolgt), in Deutschland folgte etwas später die Verfügbarkeit auf Sky – allerdings ohne entsprechenden Kino-Release. Der Film ist mittlerweile auch in den ersten Kinos angelaufen, doch nicht umsonst warb Sky mit dem Claim “Noch exklusiv vor Kino-Start”. Aber wer möchte denn noch ins Kino, wenn der Film schon seit Monaten bequem per Sky geschaut werden konnte? Dass Kinos schon länger ein schrumpfendes Publikum aufweisen, ist kein Geheimnis, doch sobald das Hauptargument, die frühe Exklusivität, für einen Kinobesuch wegfällt, sieht es richtig düster aus. Noch haben Kinos den Vorteil, die aktuellsten Filme zuerst zu zeigen, noch Monate bevor ein Release auf Disc oder Streaming-Diensten erfolgt. Die Betonung liegt jedoch auf noch, denn der Trend scheint klar: Die zeitliche Exklusivität der Kino-Veröffentlichung ist kein Fakt mehr.
Stellt sich also die Frage: Brauchen wir das Kino noch? Oder sind wir dem altmodischen Lichtspielhaus entwachsen? Das allgemeingültig zu beantworten ist nicht einfach, denn die Bedürfnisse der Film-Liebhaber sind natürlich unterschiedlich. Tatsächlich konnte quasi jeder selbst erleben, wie eine Welt ohne Kino aussehen würde. Schließlich gab es viele Filme, die regulär im Kino angelaufen wären, stattdessen auf Streaming-Diensten. Vorreiter: Disney. Kein Wunder, denn als Produzent der Filme kann man diese spielend leicht auf die eigene Streaming-Plattform schubsen, wenn die Kinos geschlossen sind. Der erste Film, der auch durch die starke Verärgerung der Kinobetreiber Wellen schlug, ist Mulan. Die Real-Adaption des Zeichentrick-Klassikers feierte am 4. September 2020 Premiere – allerdings nur auf Disney+ und auch nur für Abonennten, die bereit waren, 21,99€ für den Zugang zum Film zu zahlen (genannt “VIP-Zugang”). Das ist natürlich für alle, die den Film alleine oder nur mit einem Freund schauen wollten, viel, auch im Vergleich zu Kinopreisen, die man oftmals mit Rabatten senken kann. Zumal alle Sammler, die sich später noch die Blu-rays ins Regal stellen wollen, ohnehin zum Disc-Release nochmal einen ähnlichen Preis zahlen müssen. Da stellte sich für den einen oder anderen Film-Fan wohl auch die Frage, ob man ein Mulan dann sofort sehen muss oder nicht einfach auf die Disc wartet.
Die Vorteile des Streamings liegen natürlich auf der Hand und gelten für Filme, die eigentlich eher Kino-Kandidaten sind, genauso wie bei jedem anderen Film. So ist man nicht darauf angewiesen, dass der Film zu einer Zeit läuft, an der man auch selbst den Weg zum Kino machen kann. Nein, beim Streaming kann man sich den Film anschauen, wann man möchte und ihn auch stoppen, wenn man mal kurz die Toilette aufsuchen oder Snacks nachfüllen will. Im Kino gestaltet sich das eher schwierig. Mal abgesehen davon, dass Snacks und Getränke im Kino ihren stolzen Preis haben, bei dem man sich doppelt und dreifach überlegt, ob es das süße Popcorn wirklich sein muss. Außerdem hat man teils auch das Glück, dass der Film im regulären Streaming-Abo erscheint, sodass man ihn ohne Aufpreis schauen kann, schließlich bezahlt man das Abo für den Streaming-Dienst sowieso schon. Und selbst der Aufpreis für Filme per VIP-Zugang auf Disney+ ist gar nicht mehr so hoch, wenn man ihn eben nicht alleine, sondern vielleicht mit der Familie schaut (was sich der Mäusekonzern gerade bei familienorientierten Titeln wie Raya und der letzte Drache wohl ohnehin gedacht hat) oder seinen Account schlicht teilt.
Aber warum ist dann das Kino trotzdem etwas, das viele Film-Fans schmerzlich vermissen? Nun, zum Einen haben natürlich die wenigsten Menschen einen TV in Leinwandgröße in den heimischen vier Wänden stehen. Und die Gerätschaft für den Sound fehlen wohl auch eher. Dabei entfalten viele Filme ihre Wirkung eben erst so richtig auf einer großen Leinwand. Oder machen einen Film, der sonst eher zum Davonlaufen ist, zumindest sehenswerter (die Autorin dieser Zeilen könnte sich vorstellen, dass sie Wonder Woman 1984 im Kino doch noch irgendwie mehr hätte abgewinnen können). Dazu ist ein Kinobesuch nur allzu oft eben auch ein Erlebnis, denn auch wenn das Heraussuchen der passenden Spielzeit, womöglich auch noch von Fahrtzeiten öffentlicher Verkehrsmittel, nervig sein mag, wird aus dem Schauen des einen Filmes ein Erlebnis. Man schnappt sich ein paar Freunde, fährt in das persönliche Lieblingskino und wartet gespannt im sich langsam verdunkelnden Kino-Saal auf den Start. Wenn der Film dann zu Ende ist, bleibt die Frage, ob nach dem Abspann noch etwas kommt und man diskutiert, ob man noch sitzen bleiben sollte. Beim Streaming hat man das nicht, da spult man einfach vor. Klar mag sich das banal anhören und den langen Abspann finden wir meist sowieso zum Gähnen, aber irgendwie gehört das alles zum Gesamtpaket. Zumindest ich erinnere mich mit Men in Black: International und Gemini Man an zwei Filme, die ich eigentlich nur als okay empfunden habe, noch sehr gut. Das liegt aber nicht am Inhalt, sondern einfach daran, dass ich die Tage, an denen ich für diese Filme im Kino war, als ein Erlebnis im Kopf habe und mich somit viel besser daran erinnere.
Ein weiterer Aspekt, dem man sich oft gar nicht bewusst ist: Bei der Masse an Titeln auf den gängigen Streaming-Diensten gerät ein neuer Film schnell in Vergessenheit. Da kann es schon sein, dass der Western Neues aus der Welt (ein perfektes Beispiel, denn der Film landete nach dem abgesagten Kino-Start im Programm von Netflix) ein paar Wochen auf der Watch-List versauert. Denn wie heißt es so schön: Der Film läuft ja nicht weg, anders als im Kino, bei dem das Programm immer nur für einige Wochen gilt. Ob ich mir das Ganze früher oder später anschaue, macht nicht wirklich einen Unterschied. Und, wenn man ihn dann mal gesehen hat, ist er wohl nur einer von vielen im schier unendlichen Angebot von Netflix, dem man je nach Gefallen ein “Daumen hoch/runter” gibt und fertig. Im Kino ist das etwas anderes, da sucht man sich bewusst im aktuellen Programm einen Film heraus und genießt diesen vor Ort. Übrigens auch ohne Ablenkung, denn das Smartphone gehört im Kino, wie wir ja alle wissen, aus. Zuhause sagt uns keiner, dass wir das Ding doch mal ausschalten sollten und sind dann eben vielleicht doch verführt, mal die neuen Nachrichten zu lesen. Das gilt natürlich nicht für jeden, aber in der heutigen Zeit kann so mancher das Smartphone kaum noch aus der Hand legen und der Druck, immer erreichbar zu sein, ist für viele ausgesprochen präsent. Insofern kann man sagen, dass ein Kinobesuch also ein bewussteres Schauen des betroffenen Filmes fördert, schließlich gibt es keine Ablenkung – kein Smartphone, keine Anrufe, keine nervigen Mitbewohner. Einfach nur man selbst und der Film, der über die Leinwand flimmert.
Irgendwie ist das Kino trotz Netflix, Disney+ und Co. eben doch noch eine Art, Filme zu sehen, die viele nicht missen wollen. Andernfalls hätten sich die Lichtspielhäuser auch gar nicht so lange halten können, sagten erste Pessimisten den Untergang doch schon beim Aufkommen der Videotheken voraus. Wie wir heute wissen, hat sich diese “Vorhersage” nicht bewahrheitet, denn während die Videotheken nach und nach verschwunden sind, gibt es Kinos immer noch. Und seien wir mal ehrlich, hätte ein Avengers: Endgame so große mediale Wellen geschlagen, wenn er nur bei Netflix (Disney+ gab’s damals noch nicht) verramscht worden wäre? Ich glaube: nein. Mit fast 2,78 Milliarden US-Dollar Einnahmen lässt sich auch für Disney sagen, dass sich die Kino-Verwertung absolut gelohnt hat. Nicht zu vergessen ist dabei auch das Gemeinschaftsgefühl im Kino. Okay, das gilt nicht immer. Wenn man Pech hat, sitzt im Kino auch gerade jemand, der es toll findet, seine Schuhe auszuziehen und den Stinkefüßen frische Luft zu gönnen (leider schon passiert!) oder direkt vor einem versperrt ein großgewachsener Mensch die Sicht. Aber an und für sich war es doch gerade am Beispiel Avengers: Endgame schön, sich mit den vielen anderen Marvel-Fans in den Saal zu setzen und den Film zu genießen. Gemeinsam zu lachen, zu weinen, dem Finale entgegenzufiebern.
Geht man von der Zuschauersicht weg, dann stellt man also fest, dass ein reines Streaming-Release auch für die Unternehmen gar nicht so toll ist. Denn so groß die Verbreitung von Netflix, Disney+ und Amazon Prime Video sein mag, so stellen sie dennoch ein zusätzliches Gate-Keeping dar. Man muss immer das große Ganze im Blick haben und da sieht man, dass mit einem Kino-Ticket jeder den neuen Film schauen kann. Kommt es hingegen, wie bei Neues aus der Welt, zu einem Netflix-Deal, dann heißt das auch wirklich: Nur wer ein Netflix-Abo hat, kann den Film schauen. Und aus rein psychologischer Sicht schrecken Menschen bei dem Begriff “Abo” eben doch zurück, monatliche Kündbarkeit hin oder her. Da ist das klassische Kino-Ticket viel verlockender. Netflix-Deals waren für deutsche Film-Fans 2020 vor allem dann super, wenn sie Filme betroffen haben, die man normalerweise gar nicht so schnell hätte sehen können. Ein Beispiel hierfür ist der Anime-Film Um ein Schnurrhaar, den man außerhalb Japans definitiv nicht so schnell hätte schauen können, wenn sich Netflix nicht die Lizenz geschnappt hätte, nachdem die Corona-Pandemie den regulären japanischen Kinostart schwierig gestaltet hat. Ein fantasievoller Anime-Streifen ist eben auch nicht das Blockbuster-Kino, das potenziell Massen vor die Kino-Kasse stürmen lässt und für den dann vor den Kinos ein riesiges Poster prangt.
Wie sieht denn nun die Zukunft aus? In manchen deutschen Gebieten haben erste Kinos bereits wieder geöffnet, je nachdem, ob es die Infektionszahlen zulassen. Der Film Cruella wird deshalb für Disney+ (im VIP-Zugang) als auch für Kinos beworben, auch wenn es fragwürdig ist, wo man den Film denn aktuell wirklich schon auf der großen Leinwand genießen kann. Aber Anfang Juli wird der von Marvel-Fans heißersehnte Black Widow gleichzeitig im VIP-Zugang von Disney+ und in deutschen Kinos starten (und zwar hoffentlich in den flächendeckend bis dato geöffneten Lichtspielhäusern). Dann wird sich also womöglich viel deutlicher zeigen, wohin es das Publikum größtenteils zieht. Böse Zungen mögen nun behaupten, dass Disney dem Kino somit den Gnadenstoß gibt, aber wie wir festgestellt haben, spricht eben doch noch viel für das klassische Kino. Insbesondere, wenn der Film eben nicht im regulären Abo enthalten ist. Ohnehin wird die Zeit zeigen, ob Disney seiner neuen Strategie treu bleibt, Filme zeitgleich im Kino und auf Disney+ zu veröffentlichen, denn es kann genauso gut sein, dass man sich wieder der Zeit-Exklusivität des Kinos zuwendet, sobald diese wieder regulär und langfristig geöffnet sein werden. HBO Max ist da sicherlich eine andere Geschichte, die aber für Deutschland aktuell keine Bedeutung hat, da Sky die Inhalte für deutsche Kunden bereitstellt. Hierbei stellt sich also die Frage, ob Sky dann zukünftig die Kino-Alternative für deutsche Film-Fans wird.
Somit lässt sich festhalten: Nein, Streaming kann das Kino nicht ersetzen. Ob die Möglichkeit, in Zukunft zwischen dem Stream und dem Kino wählen zu können, so schlecht ist, ist auch fragwürdig. Denn beides hat seine Vor- und Nachteile und gerade in der Pandemie hat sich das Streaming schließlich als praktische Alternative herausgestellt, sodass nicht jeder Film á la James Bond und Black Widow für mehr als ein Jahr auf der Verschiebebank landet. Letzten Endes wird das Kino aber (hoffentlich) noch lange fortbestehen und mit seinen einzigartigen Vorzügen weiterhin Jung und Alt begeistern.