Monster
Die Bande zwischen Deutschland und Japan sind stark. Militär, Medizin und Rechtsprechung sind maßgebliche Bereiche der modernen Gesellschaft, in denen Deutschland das Land der aufgehenden Sonne beeinflusst hat. Heutzutage finden sich deutsche Reminiszenzen auch in der Popkultur, allen voran im Anime- und Mangabereich. Deutsche Architektur und Charakternamen in Attack on Titan etwa, oder aber die jähzornige 3/4-Deutsche Asuka aus dem Klassiker Neon Genesis Evangelion. Der Mangaka Naoki Urasawa trieb die deutsche Wertschätzung auf die Spitze, indem er sein 19-bändigen Thriller-Epos Monster komplett in Deutschland ansiedelte. Bei schlechtem deutschen Wetter, grimm’scher Düsternis und germanischer Gefühlskälte wird hier die Geschichte von Johann Liebert erzählt, einem Kind, das sich als monströse Kreatur entpuppt, und von seinem Lebensretter, dem Arzt Kenzo Tenma, der seitdem mit der eigenen Schuld leben muss.
Kenzo Tenma ist ein junger Chirurg aus Japan und gilt als der aufstrebende Stern am Eisler-Krankenhaus in Düsseldorf. Beispiellos geschätzt von seinen Kollegen, beispiellos geliebt von der Direktorentochter Eva Heinemann und mit einer beispiellosen Zukunft gesegnet als angehender Chef der Neurochirurgie, scheint bei Tenma alles wie am Schnürchen zu laufen. Doch dann wird ein Geschwisterpaar eingeliefert. Das Mädchen Anna stark traumatisiert, der Junge Johann auf der Schwelle des Todes mit einer Kugel im Kopf. Tenma ahnt nicht, dass er, als er dem Jungen den Schädel öffnet und ihm damit das Leben rettet, gleichsam die Büchse der Pandora öffnet. Erst zehn Jahre später, als es zu mehreren Mordfällen an kinderlosen Paaren mittleren Alters kommt und Tenma ins Visier des BKAs gerät, wird ihm allmählich bewusst, dass er Johann vielleicht lieber hätte sterben lassen sollen.
Die neue Perfect Edition
Originaltitel | MONSTER |
Jahr | 1994 – 2001 |
Band | 1 / 9 |
Genre | Psycho-Thriller, Drama |
Autor | Naoki Urasawa |
Verlag | Carlsen Manga (2019) |
Erinnern die ursprünglichen Monster-Ausgaben von Egmont Manga (2002-2006) mit ihren kalkweißen Covern noch an sterile Krankenhauswelt, so wirkt die aktuell erscheinende Perfect Edition von Carlsen Manga in ihrem samtig weichen Weinrot und den vergoldeten Porträtrahmen wie die Ahnengalerie im Wohnzimmer unserer Großeltern. Beides sind visuelle Aspekte, die dem Monster-Kosmos entnommen wurden. Doch als jungfräulicher Kunde mag man bei solchen Aufmachungen zunächst nicht die Serienmördergeschichte dahinter vermuten – die Geschichte eines sinkenden Chirurgen-Sterns, der möglicherweise das Leben eines erst neunjährigen Psychopathen gerettet hat und zehn Jahre später mit den Konsequenzen dieser Tat umgehen muss.
Arztsein wird zum Politikum
Dr. Tenma wird als eifriger, netter (und ziemlich naiver) Starchirurg an der hoch politisierten Eisler-Klinik vorgestellt. Verlobt mit der Tochter des Krankenhausdirektors Heinemann, verrichtet er liebedienerisch die Aufgaben, die ihm sein Schwiegervater in spe aufträgt. Ja, Tenma verdingt sich sogar als Ghostwriter, indem er seine eigenen Forschungen unter Heinemanns Namen laufen lässt. Diese Ungerechtigkeit scheint ihn zunächst nicht zu jucken und er lässt sie ziemlich apathisch über sich ergehen. Bis Tenma schließlich von der OP eines türkischen Gastarbeiters abgezogen wird, da die OP eines berühmten Opernsängers als ranghöher betrachtet wird. Der Gastarbeiter verstirbt und Tenma merkt allmählich, dass die Eisler’sche Handhabung seinem eigenen ethischen Kompass zuwiderläuft.
„Einige Leben sind wertvoller als andere“
Der Konflikt spitzt sich zu, als die Geschwisterkinder des geflüchteten (und ermordeten) DDR-Außenhandelsberaters Liebert eingeliefert werden. Tenma entscheidet sich für die Operation des Jungen Johann Liebert und gegen die des Bürgermeister – der daraufhin natürlich verstirbt (offenbar besitzt das Eisler-Krankenhaus nur einen einzigen Chirurgen, der sein Handwerk beherrscht und daher permanent eruieren muss, welchem der Patienten er das Leben schenkt. Alle anderen haben dann eben den Kürzeren gezogen. Aber das nur nebenbei). Mit dem Tod des Bürgermeisters geht es für Tenma also bergab. Gleichzeitig kommt es im Krankenhaus plötzlich zu Mordfällen (u.a. am Direktor), ausgelöst durch vergiftete Bonbons, und dann verschwinden auch noch die Liebert-Kinder spurlos. Ab hier nimmt das Mysterium von Monster seinen Lauf.
Cast of Snowflakes
Schon der erste Doppelband von Monster ist mit vielen Charakteren angefüllt. Einige, wie Dr. Becker, haben keinen großen Einfluss auf die Hauptgeschichte, sondern sind alleine dazu da, um den Ton, die Stimmung oder Themen zu bestimmen. Andere, wie die egozentrische Eva Heinemann oder der creepy BKA-Inspektor Lunge, werden in ihren Grundzügen etabliert, erlangen ihren wahren Stellenwert aber erst im späteren Verlauf ihrer Erzählstränge. Und dann gibt es noch die Seitengeschichten, wie etwa die des Veteranen Hugo Bernhardt und seiner „Enkelin“, die als kleine Perlen am Rande für die Portion positiver Emotionalität sorgen. Auffällig ist, dass Urasawa jedem Gesicht (und sei die Person, zu der es gehört, noch so unbedeutend) einen eigenen Look verpasst, der sich in Nasen, Augen und der Art der Geheimratsecken wiederspiegelt.
Akkurates Deutschland
Genau so viel Mühe verwendet Urasawa auf die Darstellung des deutschen Lokalkolorits: In Monster sind die Wohnungen klassizistisch eingerichtet, in der Hannover’schen Altstadt gibt es Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäuser und die Marktkirche, in Heidelberg dafür verregneten Barock, und auf den Straßen stehen korrekt dargestellte Parkschilder und natürlich alte Mercedes Benz-Karosserien (in der Anime-Adaption von Studio Madhouse fahren sogar Edeka-Laster im Hintergrund herum). Zum Lokalkolorit kommt auch die politische Dimension des Mauerfalls, an die Urasawa immer wieder erinnert. So beschweren sich die Polizisten darüber, dass die Welt nach dem Mauerfall und mit der Europäischen Union wohl doch kein besserer Ort geworden ist: „Es ist nichts Gutes dabei heraus gekommen.“ Daneben streut der Autor auch regelmäßig Hinweise, dass die Geschwister Teil von etwas Größerem sind. Waren die vergifteten Bonbons tatsächlich für den Direktor bestimmt gewesen – oder vielleicht doch für den kleinen Johann? Ist Johann ein Monster, der Messias, der Antichrist und wollte man ihn deswegen über den Hades schicken?
Fazit
Die ersten Kapitel von Monster lesen sich wie ein Krankenhaus-Drama mit leicht politischem Background. Dient die erste Hälfte des Doppelbandes noch der Etablierung des Settings, der Besetzung und der Themen, nimmt die zweite Hälfte an Fahrt auf und schnell wird aus dem Krankenhaus-Drama ein Serienkiller-Drama. Der Erzählfokus wechselt und man darf in den weiteren Bänden eine mehrschichtige und sehr komplex erzählte Geschichte erwarten, die sich nach und nach zusammen fügt. Viele der (in Folgebänden) aufgegriffenen Themen sind harter Tobak (DDR-Kinderheime, organisierte Neonazis, die türkische Stadtviertel niederbrennen und auf den nächsten Hitler warten etc.), sodass das von Urasawa gezeichnete Bild Deutschlands schwer im Magen liegen kann. Wer bodenständige Geschichten ohne übernatürliche Elemente mag, mit Spannung, Drama, tiefer Handlung und psychologischen Abgründen, ist bei Monster genau richtig. Die Perfect Edition von Carlsen Manga wird neun Doppelbände umfassen.
© Carlsen Manga