The Grimm Variations (Staffel 1)
Was wäre, wenn ein Märchen kein Märchen wäre? Wie wäre es, wenn Aschenputtel und Rotkäppchen nicht nett und unschuldig sind? Diesen Fragen stellt sich die von Netflix am 17. April 2024 veröffentlichte Anthologie-Serie The Grimm Variations. Neuauflagen der ursprünglichen Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm sind keine Seltenheit und finden häufig Wiederverwendung. Die meisten Versionen spiegeln jedoch nicht die Originalgeschichte wieder. Bekannte Disney-Adaptionen wie Dornröschen und Schneewittchen werden größtenteils in eine lockere und kindgerechte Richtung gelenkt, es gibt aber auch gruselige Verfilmungen. Darunter fällt definitiv The Grimm Variations. Die Serie bedient sich am Originalmaterial von sechs Grimmschen Märchen und entführt die Handlung in verschiedene Epochen und Welten. Garniert wird das Ganze mit einem Charakterdesign der Mangaka von CLAMP (Cardcaptor Sakura), die in Zusammenarbeit mit Studio Wit (The Ancient Magus’ Bride) und der Drehbuchautorin Michiko Yokote (Tsurune) eine Neuinszenierung der Märchen geschaffen haben. Möchten auch Sie von dunklen Märchen hören?
Jacob und Wilhelm Grimm sind bekannt für ihre Volksmärchen. Ihre kleine Schwester Charlotte darf diese als erste Person hören. Doch das Mädchen fragt sich, ob die Figuren wirklich glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebten. Ist Aschenputtel ein unschuldiges Mädchen, das von seiner Stiefmutter und den Schwestern drangsaliert wird oder könnte es nicht genau umgekehrt sein? Solche Märchen würde Charlotte gerne hören. Welche Verbindungen Rotkäppchen und der böse Wolf haben, was Hänsel und Gretel im Wald erleben, wie die Elfen einem Schriftsteller helfen, was die Bremer Stadtmusikanten aufeinmal in Amerika verloren haben und wohin der Rattenfänger von Hameln mit seiner Flöte wandert – all diesen Dingen gehen die Gebrüder Grimm und Charlotte auf den Grund.
Happy End oder Blutbad?
Originaltitel | Grimm Kumikyoku |
Jahr | 2024 |
Episoden | 6 |
Genre | Fantasy, Science-Fiction, Horror |
Regie | Yasuhiro Akamatsu, Junichirou Hashiguchi, Yumi Kamakura, Youko Kanamori, Shintarou Nakazawa, Masato Takeuchi |
Studio | Studio Wit |
Veröffentlichung: 17. April 2024 auf Netflix |
Neuerzählungen und Abwandlungen von Märchen gibt es wie Sand am Meer. Die ursprünglichen Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm werden seit jeher adaptiert und neu gestaltet. Bei filmischen Umsetzungen von Märchen denken viele sofort an Walt Disney. Diese Geschichten haben in den meisten Fällen ein Happy End und die Guten werden süß dargestellt, während die Bösewichte auf einen Blick sofort zu erkennen sind. Doch waren die Märchen der Gebrüder Grimm schon immer kinderfreundlich? Die richtige Antwort lautet nein. Die Wahrheit zeigt, dass Wilhelm Grimm 1857 mit der Veröffentlichung der letzten Ausgabe von Kinder- und Hausmärchen begann. Diese Ausgabe gilt heute als das Original. Es ist jedoch die von Grimm selbst überarbeitete Fassung der richtigen Märchen, die er und sein Bruder 1811 gesammelt und veröffentlicht hatten. Die Brüder hatten die Dunkelheit der Welt in ihre Märchen eingearbeitet. Wilhelm wollte sie durch diese Änderung kinderfreundlicher gestalten. Vollständig ist das jedoch nicht gelungen. Es gibt auch dunkle Versionen und eine davon ist The Grimm Variations. Der Schwerpunkt liegt auf den düsteren Seiten der Werke. An Happy Ends, Gesang und Tanz ist hierbei nicht zu denken. Die finalen Ergebnisse fallen unterschiedlich aus – es enden nicht alle Folgen mit einem Blutbad. Somit ist nicht nur für Fans von psychischen Gruselelementen und Horror etwas dabei.
Cinderella oder der böse Wolf?
Thematisch stehen die menschlichen Gefühle im Mittelpunkt. Die düsteren Themen bilden das Grundgerüst, aber ohne die Figuren würden die Geschichten nicht zum Leben erwachen. Alle Figuren haben ihren Anteil am Ausgang der Folgen. Nicht nur die scheinbaren Protagonisten, sondern auch die Nebenfiguren. Das Genre wechselt von Folge zu Folge und bewegt sich durch verschiedene Zeitalter und Epochen. Jede Episode begibt sich auf eine eigene Reise und verkörpert ein berühmtes Märchen. Das behandelte Thema bleibt jedoch dem Originalmaterial der Gebrüder Grimm treu. “Cinderella” gibt der ursprünglichen Geschichte eine unheimliche Wendung. Der starke Auftakt soll die Zuschauenden fesseln. “Rotkäppchen” wäre als erste Folge für den einen oder anderen abschreckend gewesen. Daher stellt die Belegung der Folgen die perfekte Reihenfolge dar. Blutige Szenen und eine Thematik, in der ein Serienmörder in einer dystopischen Zukunft frei herumläuft und der Jäger zum Gejagten wird, zeigen wie düster Märchen sein können. Und das sind sie auch. “Hänsel und Gretel“ bringt dafür auf eine andere düstere Art wieder etwas Ruhe hinein. Es gibt Teile, die überzogen wirken oder die mehr Zeit gebraucht hätten, um ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Ohne den Titel des umgesetzten Märchens oder den Namen der Figuren könnte es auch schwerfallen, zu erkennen, um welches Märchen es sich handelt. Interpretationsgabe ist von Vorteil.
Eine runde Sache
The Grimm Variations ist ein Gemeinschaftsprojekt von CLAMP und Studio Wit, welches für Attack on Titan und Vinland Saga bekannt ist. Das Charakterdesign kommt von den Mangaka von CLAMP und das Drehbuch von Michiko Yokote. Es fiel die Entscheidung, den Regiestuhl für jede Episode neu zu besetzen. Dies trägt zum Anthologieaspekt bei und haucht jeder Episode einen eigenen Stil ein, während gleichzeitig eine gewisse Konsistenz gewahrt wird, indem Drehbuchautorin und Charakterdesign bleiben. Michiko Yokote hat bereits in der Vergangenheit mit CLAMP zusammengearbeitet und an den Drehbüchern zu xxxHOLIC und Kobato mitgearbeitet. Sie hat die Märchen der Gebrüder Grimm nicht neu erfunden, aber schafft es, mit ihrem Ergebnis die Zuschauenden zu fesseln, obwohl die Geschichten größtenteils bekannt sind. Die Zusammenarbeit der vielen kreativen Köpfe trägt Früchte.
Für Auge und Ohr
Gemeinsam mit seinem Live-Orchester tanzt Komponist Akira Miyagawa (Mazinger Edition Z: The Impact!) durch die Welt und haucht mit Musikstücken aus den Bereichen Pop, Jazz und Klassik jeder Folge ein eigenes Leben ein. Chopins “Minutenwalzer” und Beethovens “Für Elise” erklingen, Trompetensoli in einem Jazz Club und ein Mundharmonikastück im Wilden Westen sind unter anderem zu hören. Jede Episode hat ihren eigenen Stil, der entsprechend zum Setting passt. Das betrifft nicht nur die Akustik, sondern auch die Optik. Es ist zeichnerisch gelungen, jede Folge in einem anderen Stil zu halten und an den jeweiligen Handlungsort anzupassen. Detailverliebtheit spielt allgemein eine große Rolle. Das Einzige, was alle sechs Folgen stilistisch verbindet, ist der Prolog. Hier sprechen Wilhelm und Jacob Grimm über ihre Geschichten und werden von ihrer kleinen wissbegierigen Schwester Charlotte begleitet. Besonders im Prolog kann man das Mitwirken der Zeichnerinnen von CLAMP erkennen. Da die Bilder nicht animiert sind und in einer wunderschönen Bilderbuchoptik mit Pinselstrichen dargestellt sind, kommen für Kenner der CLAMP-Reihen Ähnlichkeiten zu bekannten Figuren zum Vorschein. Untermalt wird dies mit einem Aquarell-Effekt, wodurch sich die Anfangsszenen enorm vom Rest der Episoden unterscheiden. Es scheint, als bringe der Anfang eine Ruhe, bevor die Düsternis der Märchen erwacht.
Ein sprechendes Gesicht
Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass die drei Grimm-Geschwister nicht nur im Prolog, sondern in jeder Episode mitwirken. Auch wenn sie nicht immer dasselbe Geschlecht oder die gleiche Haarfarbe besitzen, an der Form des Gesichts und der markanten Haarwelle von Wilhelm sind sie trotz allem zu erkennen. So wird noch einmal betont, dass die Drei den roten Faden in jeder Episode bilden. Schließt man die Augen, kann man das auch hören. Bekannte Sprecher, sowohl im Original als auch in der deutschen Synchronisation, sind zu erkennen. Tatsuhisa Suzuki (Makoto Tachibana in Free! – Iwatobi Swim Club) und Kenki Nojima (Kita Shinsuke in Haikyu!! To the Top) leihen Jacob und Wilhelm ihre Stimme, während im Deutschen Manou Lubowski (Souma Kazuma in Fruits Basket) und Arne Hörmann (Kerberos in Cardcaptor Sakura Clear Card) diese übernehmen. Charlotte hat Misato Fukuen (Himiko Toga in My Hero Academia) und im Deutschen Patricia Strasburger (Chibiusa in Sailor Moon Crystal) hinter sich. Eine Synchronisation, die gelungen ist, und sowohl in den ruhigen Prolog-Passagen als auch in den Spannungsteilen überzeugt.
Fazit
Wer kennt sie nicht, die Märchen der Gebrüder Grimm. In den ursprünglichen Versionen ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen, sondern ein dunkler Einschlag ist bewusst von Jacob und Wilhelm Grimm eingearbeitet. Charlotte betont dies auch noch einmal und möchte solch eine Geschichte gerne hören. The Grimm Variations bietet fesselnde Nacherzählungen der jahrhundertealten Märchen und zeigt viel mehr als nur düstere Versionen. Faszinierende Ideen, das Eintauchen in fremde Welten, die Macht zu interpretieren und sich ein eigenes Bild zu machen, zeichnen die Serie aus. Es ist schwierig, Märchen die schon so vielfältig erzählt wurden, noch einmal in einem anderen Licht aufleben zu lassen. Der erste Schritt ging definitiv nicht ins Leere, auch wenn noch Luft nach oben ist. Für einige Märchen reicht eine Laufzeit von 45 bis 60 Minuten eben nicht aus. Das beste Beispiel hierfür ist der Rattenfänger Hameln. Diese Episode befasst sich mit Traditionen, Veränderungen und der Flucht vor allen Regeln. Der Versuch, diese Themen in einer Folge unterzubringen, erfüllt leider nicht ihren Zweck. Es gibt noch genug Märchen. Dementsprechend wäre eine zweite Staffel denkbar.
© Netflix