Southern-Reach-Trilogie (Band 1): Auslöschung

Wer kennts nicht: Man wiederholt ein Wort so lange, bis es in den eigenen Ohren völlig fremd klingt. So ergeht es auch der Biologin, der namenlosen Hauptfigur aus Jeff VanderMeers Auslöschung: Sie starrt in die vertraute Natur und erkennt nichts mehr wieder. Auslöschung bildet den Auftakt zu VanderMeers vielbeachteten Southern Reach-Trilogie und erzählt von der Forschungsreise in ein von außerirdischen Kräften beeinflusstes, aber dennoch ungewöhnlich vertraut erscheinendes Terrain; ein Terrain, das sich als Reich des Grauens entpuppt.

 

Vor 30 Jahren erschütterte ein mysteriöses Ereignis die Küste. Seitdem wird das Gebiet, welches Area X genannt wird, von einer unnatürlichen unsichtbaren Grenze umschlossen. Niemand weiß, was dort passiert, doch es ranken sich Geschichten über eine wuchernde, gefährliche Natur die alles an menschlicher Zivilisation verschlingt. Die Southern Reach-Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wesen von Area X zu erkunden und schickt zu diesem Zwecke regelmäßig Expeditionen in das Gebiet – doch keine kam lebend zurück bzw. wenn denn jemand zurück kam, war er verändert oder starb wenig später. Nun schickt Southern Reach die zwölfte Expedition ins Rennen, eine Expedition, die nur aus Frauen besteht: eine Psychologin, eine Vermesserin, eine Anthropologin und eine Biologin. Doch niemand hat sie auf die Geheimnisse vorbereitet, die sie dort antreffen – und selber mitgebracht haben. Auslöschung ist der Expeditionsbericht der Biologin.

Über New Weird

Originaltitel Annihilation
Ursprungsland USA
Jahr 2014
Typ Roman
Band 1 / 3
Genre Science-Fiction, New Weird, Biopunk
Autor Jeff VanderMeer
Verlag Kunstmann (kartoniert), Droemer Knaur (Taschenbuch)

Jeff VanderMeers Werke werden der „New Weird“-Strömung zugerechnet, eine Tendenz in der Fantastik und Science Fiction, die frischen Wind in die Genres bringt. Der goldene Begriff, der über dieser literarischen Strömung schwebt, ist „Transzendenz“. Das heißt, die Geschichten transzendieren die Genre-Grenzen, verwischen sie, und dringen dabei vor bis an die Ränder des menschlichen Bewusstseins. Jeff VanderMeer und seine Frau Ann Vandermeer definieren in ihrer Anthologie The New Weird besagte Strömung folgendermaßen: die Strömung sei „a type of urban, secondary-world fiction that subverts the romanticized ideas about place found in traditional fantasy, largely by choosing realistic, complex real-world models as the jumping-off point for creation of settings that may combine elements of both science fiction and fantasy.“ In ihrem New Weird-Gewand kann die Fantastik also ihre romantischen Klischees abstreifen und die Sci-Fi darf die Rationalität hinter sich lassen. New Weird gilt hierzulande immer noch als Geheimtipp.

Area X

In seinem Roman Auslöschung verbindet VanderMeer die Sci-Fi mit dem Horror. Die Geschichte beginnt wie ein nüchterner Tatsachenbericht der Biologin, die versucht, Area X zu verstehen. Eine schwierige Aufgabe, denn Area X ist eine Ansammlung unterschiedlichster Habitate, von Wiesen, Wäldern, Sümpfen und Tieren, und obwohl diese Dinge alle sehr vertraut wirken, beherbergen sie in ihrem Kern doch etwas zutiefst Befremdliches und Groteskes, was die Biologin nur schwer in Worte fassen kann. Trotzdem erkennt sie sehr wohl die Veränderungen und Transformationen in ihrer Umgebung. Sie hört das klagende Monster, das durch die Marschlande streift. Sie sieht die menschlichen Masken, die am Grund des Sumpfes liegen. Sie spürt diese fremde Entität, die irgendwo tief unter der Erde Worte mit einer ihr unbekannten Bedeutung verfasst. Sie spürt diesen seltsamen Drang, zu dem Leuchtturm an der Küste zu gehen – diesem letzten Bollwerk trügerischer Sicherheit. Und sie erkennt auch, wie diese Dinge ihre Expeditionskolleginnen beeinflussen. Die Biologin beschreibt sehr genau, was Area X mit der Psyche macht, wird dabei aber nie hysterisch, sondern bleibt die nüchterne Wissenschaftlerin die sie ist. Trotzdem, oder gerade deswegen, packt einen der leise Psycho-Horror.

Das fremdelnde Quartett Female

In diesen Psycho-Horror spielt auch das grundsätzliche Misstrauen hinein, das unter den Frauen herrscht, denn sie wurden alle namenlos nach Area X geschickt. Sie sprechen sich lediglich mit ihrer Funktion an. Primär soll dieses Vorgehen einem Schutzmechanismus dienen, doch trägt es vor allem zur Entfremdung bei. Dabei ist auch eine Entfremdung von dem Leser gemeint, denn zusätzlich zur Namenlosigkeit werden die Frauen mit keiner Silbe äußerlich beschrieben. Von dem eigentlichen Zweck der Distanzierung mal abgesehen, ist das auch sonst ‘ne ziemlich coole Geste von VanderMeer. Er erschafft hier ein reines Frauenquartett und lässt das Äußerliche außen vor. Stattdessen schreibt VanderMeer all diese als männlich geltenden Attribute wie expansiver Forscherdrang, Abenteuerlust, Waffenbeherrschung etc. Frauen zu und bleibt dabei total unaufgeregt. Macht keine Nummer daraus. Keine verhaltenstechnische Klischees, keine platten Attitüden, kein Hauch von sexualisierten Deskriptionen. Es geht rein um die Expedition. Eine echte Rarität.

Gib mir Kontext, Mann

Die Expedition ist geprägt von einer grundsätzlichen Unwissenheit, in die Southern Reach die Frauen lässt und es erhärtet sich der Verdacht, dass die Organisation sehr viel mehr weiß als sie zugibt – aber dennoch schlicht überfragt ist. Sie schickt unzählige Expeditionen los mit unterschiedlichen Variablen (zum Beispiel eine rein weibliche Expedition), nur um ein System hinter Area X zu finden, eine Erklärung. Durch die schiere Wiederholung erhofft sie sich eine Lösung des Problems. Ein krampfhaftes Festhalten an wissenschaftlicher Empirie, ganz gleich, was dem dabei verbratenen Menschenmaterial widerfährt. Das Vorenthalten von Informationen ist etwas, was die Biologin bemängelt, dabei ist sie selber stellenweise ein Paradebeispiel des „unzuverlässigen Erzählers“.

Die Wut des Verstehens

Das „Vorenthalten von Informationen“ bezeichnet die Biologin auch als „Das Schreiben am Rand der Dinge entlang“. Sie versteht das als eine Ausdrucksform des Umgangs mit dem Entsetzen in Area X. Während ihrer Expedition stößt die Biologin auf Tagebücher vorangegangener Expeditionen und beschwert sich darüber, dass es schlicht zu viele Informationen in anekdotischer Form seien und keiner auf das Wesentliche komme. Damit beschreibt sie quasi das Wesen von Auslöschung selbst, denn auch VanderMeer wendet diese Methode an. Man könnte meinen, er selbst sei ein solcher Tagebuchschreiber der vergangenen Expeditionen. Jemand, der aus erster Hand all diese faszinierende, bizarren, düsteren Dinge erlebt und durch jede weitere Anekdote das Mysterium um Area X noch weiter aufbläht und dadurch beim Leser eine regelrechte Wut des Verstehens entfacht. Dazu passt die Buchgestaltung des Kunstmann-Verlages: Entfernt man den Einband (der im Dunkeln übrigens fluoresziert, ist das geil oder ist das geil?), hält man ein schlichtes schwarzes Tagebuch mit weißen Buchecken in der Hand. Ein Expeditionstagebuch. Willkommen in Area X.

Der Unterschied zum Film

Auch wenn der Southern Reach-Stoff als unverfilmbar gilt, hat Alex Garland im Jahre 2018 Auslöschung auf die Leinwand gebracht. Der grundlegende Unterschied ist zunächst einmal, dass VanderMeers Auslöschung nur ein Auftakt ist, Alex Garland jedoch aus seinem Film ein Solostück gemacht hat. Er habe keinerlei Interesse daran, die nachfolgenden Bücher auf Leinwand zu bringen. Das heißt also schon mal, dass das Ende ein ganz anderes ist, denn dem Zuseher soll ja etwas Abgeschlossenes vorgesetzt werden. Während die Leserschaft also nach der Lektüre noch rätselt, was es mit Area X auf sich hat, kriegt der Filmgucker am Ende des Films eine Interpretation geliefert – die sich quasi in nichts mit der Originalvorlage deckt. Auch das Schicksal der Biologin (und ihres Ehemanns) ist ein anderes. Darüber hinaus wurde auf die Anonymität der Gruppe verzichtet. Ist im Buch die Entfremdung des Lesers von der Welt und von den Figuren allein schon dadurch gegeben, dass die Figuren via Berufsbezeichnung gerufen werden, so wirkt es im Film geradezu banal, wenn die Biologin den Namen „Lena“ bekommt. Dadurch verliert die Verfilmung viel von der eigentümlichen, befremdlichen Atmosphäre. Der größte aller großen Wermutstropfen ist aber das Fehlen der topographischen Anomalie – und damit die völlige Abwesenheit des Crawlers.

Fazit

VanderMeer erzeugt in seinem Auftakt Auslöschung eine unglaubliche Stimmung. Zwar fallen im Bezug auf New Weird immer wieder mal Begriffe wie „abstrakt“ und „nicht zugänglich“, aber das alles gilt nicht für VanderMeers Auslöschung. Der kompakte, 240 Seiten umfassende Expeditionsbericht der Biologin zieht den Leser in einen geradezu grotesken Bann und besitzt eine erzählerische Tiefe, die man vielleicht gar nicht so erwartet. Wie es sich für den Auftaktband zu einer Mystery-Trilogie gehört, hüllt sich Auslöschung erst einmal in verhaltener Uneindeutigkeit. Die Biologin und der Leser befinden sich auf demselben Wissensstand. Kam mir als Leser auch entgegen, da die Biologin als die fleißige Wissenschaftlerin, die sie ist, dann und wann noch mal alles resümiert und relevante Fragen formuliert. Die Antworten bleiben natürlich aus, aber einen Fragenkatalog spendiert zu bekommen weckt schon mal die Hoffnung, dass VanderMeer sich dessen, was er späterhin zu beantworten hat, bewusst ist.
Ich habe Auslöschung das erste Mal im Jahre 2015 gelesen, direkt danach noch einmal und nun fünf Jahre später zum dritten Mal, und – um die Biologin mal sinngemäß zu zitieren – die Worte leuchten mir mehr und mehr ein. „Waren sie nicht mehr so verschlüsselt oder weiß ich mittlerweile einfach mehr?“ Beides, liebe Biologin, beides. Auslöschung ist für mich definitiv eines der großen Sci-Fi-Highlights der letzten Jahre.

© Kunstmann Verlag

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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Aki
Aki
Redakteur
13. September 2020 10:07

Wollte mal danke sagen, für den Artikel. Den Film finde ich ja sehr faszinierend, packend und zum nachdenken anregend, daher war ich neugierig wie die Vorlage so ist.

Last edited 4 Jahre her by Aki
Lyxa
Redakteur
2. Januar 2021 13:33

Hab’s jetzt gelesen, fand’s extrem spannend (da auch große Unterschiede zum Film) und hol mir auch noch die nächsten Bände. Irgendwie verstehe ich die Eigenheit von New Weird aber noch nicht bzw. den Unterschied zum Mystery-Genre (etwas passiert und Protagonist wie auch Leser verstehen es (zunächst) nicht). Ich mein, was Auslöschung macht, macht es gut und die Biologin als unzuverlässiger Erzähler treibt einen noch zusätzlich an, das bisschen zu hinterfragen, was man überhaupt weiß, aber wirkungstechnisch empfand ich bei mir keinen großen Unterschied zu bspw. der einen oder anderen guten alten Akte X-Folge oder auch Fringe.

Lyxa
Redakteur
Antwort an  Totman Gehend
4. Januar 2021 10:15

Nee, ich find das Thema spannend. Ich habe mich zuerst gewundert, ob New Weird nicht einfach ein neues Label für Altbekanntes ist. Einerseits Mystery und wo du es hervorhebst: Dass der Ort im Mittelpunkt steht und auf die Psyche der Figuren einwirkt, ist andererseits auch oft ein Aspekt in der Grusel- bzw. Schauer-Literatur, wo mit dem Wechsel zwischen sicheren und gefährlichen Orten und ungesehenen, uneindeutigen Gefahren gearbeitet wird. Den Turm oder die heulende Kreatur könnte man da auch einordnen. Aber irgendwie scheint New Weird ja in so einem befremdlich grotesken Schnittbereich vorzudringen, mit viel Unsicherheit/Unbestimmtheit, etwas Grusel und einem subjektiv-psychologischen Aspekt. So richtig fassbar finde ich diese angestrebte Stimmung oder das Gefühl noch nicht, aber wenn allein schon die typischen Genre-Schemata aufgelöst werden, freu ich mich.
Ja, nachdem ich Control eher enttäuschend fand, hatte ich auch etwas Angst, dass Auslöschung für mich nichts wird. Weiß nicht, bei Control war mir die künstlerisch ach so wertvolle Inszenierung letztlich zu viel (bei Schatten-Trench und dem Hotel hab ich irgendwann nur noch genervt die Augen verdreht) und das Gameplay hat mich auch teilweise stark gefrustet. Da konnte ich mich dann auch irgendwann nicht mehr richtig auf die Atmosphäre einlassen. Und irgendwie war es mir da auch mit den offenen Fragen derart zu viel, dass mir das Geschehen eher am verlängerten Rücken vorbeigegangen ist. Hier ringt ja die Biologin noch um eine Erklärung und um ihr eigenes Verstehen, was mich beim Lesen dann mitnehmen konnte.
So, nächster Band bestellt und We’ve Forgotten More Than We Ever Knew auf die Watchlist gepackt.