China Protokolle
Nach dem Erscheinen von Die Kronzeugin (2020), in dem sich Sayragul Sauytbay mit ihrer eigenen Flucht aus China befasst, konzentriert sie sich in ihrem am 28. Oktober 2021 erschienenem, neuem Werk gemeinsam mit Co-Autorin Alexandra Cavelius (Die Assassinin) auf zehn verschiedene Zeug*innen, überwiegend muslimische Uiguren und Kasachen, die unter Chinas Politik gelitten haben. Dadurch geben sie diesen Männern und Frauen eine Stimme, um über die Grausamkeiten vor, während und nach ihrer Inhaftierung in sogenannten Umerziehungslagern in der chinesischen Provinz Xinjiang zu berichten. Es sind erschreckende Berichte voller Tod, Leid und Demütigung vieler Menschen, die in der Öffentlichkeitsarbeit der Kommunitaristischen Partei Chinas (KPCh) verharmlost und dementiert werden. Mit dem Buch China Protokolle wird die Wahrheit ans Licht gebracht – und dieses wurde völlig zu Recht mit dem internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis 2021 ausgezeichnet. Das Thema ist nicht leicht und mit politischen Spannungen aufgeladen. Doch gerade wegen der olympischen Winterspiele 2022 in Peking, die paradoxerweise von einer uigurischen Sportlerin eröffnet wurden, darf die Lage in Xinjiang nicht unter den Teppich gekehrt werden.
Als ehemaliges Parteimitglied kennt Sayragul Sauytbay die Gedanken der KPCh-Kader sehr gut und erfuhr am eigenen Leib die Schikanen und Grausamkeiten durch eben die Partei, in der sie Mitglied war. Dabei berichtet sie in ihrem Werk China Protokolle ungeschönt über die politische und wirtschaftliche Bedeutung Xinjiangs bzw. Ostturkestans für die Volksrepublik China sowie ihre eigenen Todesängste innerhalb und außerhalb des Lagers. Die mittlerweile in Schweden im Asyl lebende Aktivistin gliedert ihr neues Buch in thematische Schwerpunkte von Zwangssterilisation über Folter bis hin zu Mord und lässt die Opfer mit ihren eigenen Stimmen über ihre Erfahrungen sprechen.
Humane Schrecken im Namen von Harmonie und Frieden
Originaltitel | China Protokolle – Vernichtungsstrategien der KPCh im größten Überwachungsstaat der Welt |
Ursprungsland | Deutschland |
Jahr | 2021 |
Gattung | Sachbuch |
Bände | 1 |
Genre | Erfahrungsbericht |
Autoren | Alexandra Cavelius; Sayragul Sauytbay |
Verlag | Europaverlag |
Veröffentlichung: 28. Oktober 2021 |
In dem Buch China Protokolle kommen Mütter und Väter, Wissenschaftler sowie eine gefeierte, in der Volksrepublik sehr bekannte, aber nun zensierte kasachische Modedesignerin zu Wort. Sie alle erzählen von physischer und psychischer Folter durch den Staat. Sayragul Sauytbay berichtet in ihrem Buch zudem selbst über die Situation der Kinder von Inhaftierten und Nicht-Inhaftierten. So werden auch die Kleinsten bereits indoktriniert und in den Schulen zu „gehirngewaschene[n] Soldaten“ herangezogen. Die Modedesignerin Dina Nurdybay berichtet über moderne Sklaverei und wie die chinesische Regierung ihre wirtschaftliche Existenz grundlos zerstörte, während die mehrfache Mutter Zumret Dawut über die Folgen von Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung, Medikamentenzwang und Folter aufklärt. Auch ihre persönlichen Ängste um die Sicherheit ihrer Kinder schildert Zumret, insbesondere im Zusammenhang mit der sogenannten Verwandtschaftlichungs-Kampagne der KPCh, die für Terror und Überwachung in den eigenen vier Wänden sorgt. So unterschiedlich die Zeug*innen in ihrer beruflichen Laufbahn auch sind, sie alle haben etwas gemeinsam: Sie alle kämpfen nach ihrer Entlassung mit psychischen sowie physischen Belastungen aufgrund ihrer Inhaftierung, den Drangsalierungen durch Staatsbeamte nach ihrer Freilassung und leben selbst im Asyl in ständiger Furcht vor dem langen Arm der KPCh. Jeder Bericht ist erschreckend und vermittelt das Bild eines Staates, der Individualismus sowie Meinungs- sowie Religionsfreiheit verachtet und den Menschen seine Doktrin für das große Ganze aufzwingen will.
Kaltes Kalkül der Kader und Gehirnwäsche
China Protokolle klärt nicht nur über die persönlichen Schicksale der Betroffenen auf, sondern berichtet auch über Gehirnwäsche, mit der die Kader ihre Landsleute indoktrinieren, um ihre Politik zu stabilisieren. Das beginnt bereits im Kindesalter an Kindergärten sowie Schulen und geht weiter über Einschränkungen im alltäglichen Leben und Propaganda-Unterricht in den Umerziehungslagern. An diesen müssen die Inhaftierten teilnehmen und ihre Liebe für Partei und Staat beweisen. Dabei gehen die Kader kompromisslos vor, indem sie nach außen hin ein Feindbild schärfen, Demokratien ihren Stellenwert abschreiben und ihre eigenen Ziele durch Sprachmanipulation verschleiern. Diese Manipulation präsentiert sich vor allem in Form von Euphemismen. So heißt es „Bevölkerungsoptimierung“ statt „Geburtenkontrolle“ und die von Mao Zedong verursachte Hungersnot von September 1958 bis Februar 1961 wird nur noch als „drei Jahre andauernde Naturkatastrophe“ bezeichnet. Dagegen werden die Partei, deren Wirtschaftspläne und Präsident Xi Jinping glorifiziert. Tatsächlich berichtet die bereits erwähnte Dina Nurdybay über Chinas Welteroberungspläne, das in drei Projekte eingeteilt sei: 2035 soll China die USA als Weltmacht ablösen soll. Das Projekt der Neuen Seidenstraße sei hierbei ein Teil des Plans.
Worte zwischen Emotionen und Sachlichkeit
Die Sprache des Buchs versucht erfolgreich, Emotionen und Sachlichkeit in der Waage zu halten. Jedes Kapitel, das eine*r Zeug*in gewidmet ist, wird mit einer kurzen sachlichen Biographie der Betroffenen eingeleitet, um die Lebenssituation der Person zu umreißen. Die Zeugenaussagen selbst sind in der Ich-Perspektive geschrieben und damit mit hoher Emotionalität verbunden. Die Leserschaft fühlt sich hineinversetzt in Dunyas Situation, spürt ihre Verwunderung, als sie grundlos verhaftet wird, und bangt um Zumrets Kinder. Einige Erzählungen sind jedoch auch im Interview-Stil verfasst. Abgerundet wird jedes Kapitel mit einer sachlichen Analyse, in der auf aktuelle Politik, den Umgang mit Social Media in China und Gehirnwäschestrategien eingegangen wird. So wird beispielsweise auch auf Donald Trump sowie das Corona-Virus eingegangen. Durch diese Mischung aus Sachlichkeit und den Berichten der Opfer schafft es das Buch, die Zeug*innen menschlich wirken zu lassen, aber gleichzeitig Chinas Politik mitsamt seinen Kadern und Beamten zu entmenschlichen.
Fazit
Im Zusammenhang mit Menschenrechten und der Volksrepublik China leistet China Protokolle eine kompromisslose Aufklärungsarbeit und hat deshalb die Auszeichnung mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis 2021 mehr als verdient. Durch emotionsgeladene Wortwahl wird unvorstellbares Grauen beschrieben und zeichnet dadurch ein Bild von der Volksrepublik China, das der Westen noch nicht kennt, aber allmählich kennenlernt. Die Schrecken, die in diesem Buch beschrieben werden, sind daher nichts für schwache Nerven, da sie von Grausamkeiten erzählen, die wir uns in unserer demokratischen Welt nicht vorstellen können oder wollen. Ich halte trotz alledem China Protokolle als eine ungeschönte Darstellung der aktuellen innenpolitischen Situation in China für lesenswert.
Veröffentlichung: 28. Oktober 2021