Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra
Die italienische Mafia ist seit dem berühmt-berüchtigten Al Capone ein fester Bestandteil der westlichen Unterhaltungsindustrie und allerspätestens nach Mario Puzos legendärem Roman Der Pate auch Gegenstand zahlreicher literarischer Werke. Anders jedoch als Puzos Kultroman, beruht Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra von Roberto Saviano (Das Gegenteil von Tod) nicht auf einer bloßen Fiktion des Autors. Vielmehr lässt Saviano überwiegend Fakten zu einem Lagebericht zusammenfließen und schafft so eine höchst explosive Mischung, die auch über zehn Jahre nach dem Erscheinen von Gomorrha nichts an Brisanz verloren hat.
In seiner Studie über den Einfluss, die Methoden und die Köpfe des süditalienischen Mafiazweigs Camorra, welcher in der Gegend rund um Neapel aktiv ist, versucht Saviano den Facettenreichtum der Camorra sowie ihre vielschichtigen, die Gesellschaft durchdringenden Strukturen offenzulegen. Dabei widmet er sich einerseits offenkundigen Auswüchsen wie Bandenkriege oder gezielte Morde, aber auch den verdeckten Tätigkeitsfeldern wie der illegalen Müllentsorgung, dem Waffenhandel oder dem Einfluss auf die Modeindustrie. Dabei scheut sich Saviano auch nicht, die Namen der Bosse zu nennen und ihre Verstrickung mit Politik und Wirtschaft ans Licht zu bringen.
Ein Buch, das ein Leben verändert
Originaltitel | Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra |
Ursprungsland | Italien |
Jahr | 2006 |
Typ | Sachbuch / Roman |
Genre | Tatsachenbericht, Drama |
Autor | Roberto Saviano |
Verlag | dtv |
Mit Gomorrha eröffnet Saviano dem Leser einen schonungslosen, unverschleierten Blick auf die italienische Mafia. Dabei erzählt Saviano keine durchgängige Geschichte sondern reiht kleine Einzelepisoden aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilbereichen aneinander und zeigt so die Vielfalt der mafiösen Strukturen in Italien, aber auch wie sich diese über das Land hinaus (unter anderem bis nach Deutschland) ausbreiten. Bisweilen verliert man angesichts der engen Verflechtungen zwischen der Mafia und dem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen System den Glauben daran, dass eine Trennung jemals möglich ist. Auch zeigt sich, dass die Organisationen zunehmend zersplittern, so dass eine Auslöschung der Mafia nur schwer vorstellbar erscheint. Die Strukturen werden zunehmend dezentral, jedoch gibt es auch nach wie vor die klassischen Paten, die über eine erschreckende Machtfülle und immense Geldmittel verfügen. Und denen stieg Saviano anno 2006 gewaltig auf die Zehen, indem er ihr florierendes Geschäftsmodell mit Gomorrha offenlegte. Somit wurde Saviano seine akribische Recherche, auf der sein Buch basiert, zum Verhängnis. Seitdem gab es diverse Morddrohungen der Camorra gegen den Autor, so dass dieser bis heute unter strengem Polizeischutz steht und kein normales Leben mehr führen kann. Saviano bezeichnet mittlerweile das Buch als großen Fehler, den er so nicht wiederholen würde. Aber auf der anderen Seite widmet er sich nach wie vor in seinen Veröffentlichungen dem Kampf gegen die Verbrecherorganisationen.
Aus der Armut geboren
Gomorrha zeigt den eigentlichen Nährboden der Camorra klar auf: die Armenviertel von Neapel. Hier rekrutiert die Camorra unter den Perspektivlosen ihre Fußsoldaten. Für viele Jugendliche scheint die Camorra der einzige Weg zu sein, um Armut und Tristesse zu entfliehen und sich Respekt in der Gesellschaft zu verschaffen. Als Vorbilder dienen die großen Bosse in ihren prächtigen Villen. Aber vor allem auch populäre Gangsterfiguren aus Hollywood wie Vito Corleone oder Tony Montana. Dabei verlieren die Jugendlichen häufig den Bezug zur Realität, indem sie den Filmfiguren nacheifern, und landen nicht selten mit Kugeln im Körper auf der Straße, wenn sie den großen Tieren der Camorra in die Quere kommen. Dies schildert Saviano eindrücklich am Beispiel zweier Jugendlicher, die sich eine Fantasiewelt aufbauen, indem sie sich Waffen von der Camorra besorgen und damit durch die Straßen Neapels ziehen und um sich schießen, um damit Respekt zu erlangen. Ganz im Stile der berühmten Gangsterfilmfiguren.
Schein und Sein
Befremdlich wirken bisweilen Savianos Schilderungen des Selbstverständnisses der Camorra-Mitglieder. Nicht nur dass sich halbstarke Jugendliche mit Hollywoodfilmfiguren identifizieren. Auch die großen Bosse legen bisweilen Villen im besten Hollywoodstil an, die, wenn der Fahndungsdruck wächst und die Mafiapaten abtauchen müssen, verlassen werden und verfallen. So entsteht ein skurriler Kontrast zwischen diesen verlassenen Villen und den schäbigen Wohnblocks in denen die Camorra ihre Wurzeln hat.
Daneben widmet sich Saviano auch tragischen Einzelschicksalen. So zeichnet er den mutigen Kampf eines Geistlichen nach, der sich im Gegensatz zur offiziellen Linie der katholischen Kirche traut, der Camorra offen entgegenzutreten. So verweigert er den Mitgliedern der Camorra in seinem Gottesdienst die Sakramente. Dies lassen die Bosse jedoch nicht auf sich sitzen und sorgen kurzer Hand dafür, dass der Geistliche ermordet wird.
Die verdeckten Geschäfte
Was Gomorrha besonders wertvoll macht (und zugleich die Mafia besonders gegen Saviano aufbrachte), ist die Beleuchtung der verdeckten Geschäftsfelder der Camorra. Neben den bekannten Geschäftsfeldern wie Drogen- und Waffenhandel oder Schutzgelderpressung ist die Camorra auch auf anderen, weniger bekannten Gebieten aktiv. So ist das Geschäft mit Giftmüll mittlerweile ähnlich lukrativ wie der Drogenhandel. Dabei wird Giftmüll aus Norditalien offiziell fachgerecht mit entsprechenden staatlichen Subventionen entsorgt. In Wirklichkeit wird der Müll jedoch einfach auf Deponien im Umland von Neapel illegal entsorgt. Mit gravierenden Auswirkungen für Menschen und Umwelt. Im Gegenzug muss der Müll aus Neapel, für den nunmehr kein Platz auf den Deponien ist, für teures Geld im Ausland entsorgt werden.
Ein anderes – eher überraschendes – Betätigungsfeld ist die Modebranche. In der Modeindustrie werden Arbeiter – häufig illegale Immigranten – unter erbärmlichsten Bedingungen eingepfercht und ausgebeutet. Und selbst hochwertige Kleidungsstücke weltbekannter italienischer Modemarken werden häufig von Subunternehmen der Mafia gefertigt, wobei am Ende bei den Arbeitern nur ein lachhaft geringer Betrag verbleibt.
Alles in allem liefert Roberto Saviano mit Gomorrha ein vielfältiges und detailliertes Bild der Camorra und ihren Aktivitäten. Dies macht Gomorrha nicht nur wahnsinnig spannend zu lesen sondern gibt auch eine Vorstellung davon, weshalb sich die mafiösen Strukturen so schwer bekämpfen lassen. Als Leser kann man immer wieder nur fassungslos mit dem Kopf schütteln. Viele Dinge, die Saviano in Gomorrha anspricht, waren mir bis dato überhaupt nicht bewusst. Der außergewöhnliche Mix aus fundiert recherchierten Fakten, Erfahrungsberichten und einem kleinen Anteil erzählerischer Fiktion, um all dies zusammenzuhalten, geht gut auf und ist somit auch für Leser interessant, die eigentlich keine Lust auf ein Sachbuch haben. Der Erfolg von Gomorrha ist nicht zuletzt auch daran abzulesen, dass das Buch bereits eine Verfilmung sowie eine Fernsehserie nach sich gezogen hat. Somit ist Gomorrha ein Buch, das sich auf jeden Fall zu lesen lohnt.