Hotel zum verunglückten Bergsteiger
„Kein Genre ist so streng regelgebunden wie das klassische Whodunit“, sagte einst der Theologe und Krimiautor Ronald Knox. Viele seiner Kollegen stimmten ihm zu und formulierten harsche Regeln für das Genre, so dass das Whodunit beinahe zu einem hermetisch abgeriegeltem Raum wurde frei nach dem Motto: „Der beste Roman ist nicht derjenige, der die Regeln übertritt, sondern derjenige, der ihnen entspricht.“ Den Gebrüder Strugatzki – im Übrigen große Fans des Detektiv-Genres – war das egal und so brachten sie 1970 ihr eigenes Whodunit-Experiment namens Hotel zum verunglückten Bergsteiger auf den Markt, in dem ein Null-Bock-Inspektor auf (mitunter einarmige) Exzentriker, einen Todesfall und Aliens trifft. In Deutschland war der Roman bislang nur in einer gekürzten Fassung zu erwerben, doch 2019 hat ihn der Golkonda-Verlag vollständig, überarbeitet, neu übersetzt und im grünstichigen Sci-Fi-Retro-Look neu als Paperback heraus gebracht .
Polizeiinspektor Glebski will Urlaub machen und quartiert sich auf Empfehlung eines Kollegen im „Hotel zum verunglückten Bergsteiger“ ein. Hotelbesitzer Alec und seine verblödete Angestellte Kaisa empfangen ihn und erzählen von seltsamen Geschehnissen. Offenbar spukt der Geist des verunglückten Bergsteigers im Hause herum, lässt mal hier ein paar Zeitungen mitgehen oder dort eine kokelnde Zigarre liegen. Auch die anderen Gäste scheinen meschugge oder zumindest skurril zu sein. Das Millionärsehepaar Moses führt eine seltsame Beziehung, der Illusionist Barnstoker macht alle mit seinen Kunststückchen verrückt, dessen Begleitung ist ein Kind, von dem man nicht weiß, ob Junge oder Mädchen, der lungenkranke Anwalt für Minderjährige Hinkus sitzt ständig auf dem Dach herum und kippt sich einen hinter die Binde… nur um einige der Gäste zu nennen. Fehlen nur noch Aliens, die Mafia – und natürlich ein Todesfall.
Über die Gebrüder
Originaltitel | Отель «У Погибшего Альпиниста» |
Ursprungsland | Sowjetunion |
Jahr | 1970 |
Typ | Roman |
Bände | 1 |
Genre | Science-Fiction, Krimi |
Autor | Arkadi und Boris Strugatzki |
Verlag | Golkonda |
Boris und Arkadi Strugatzki waren sowjetische Schriftsteller, die in den 1960ern das Flaggschiff der sowjetischen Science-Fiction-Literatur darstellten. Sie haben unzählige Bücher geschrieben und bis heute ist ihr Einfluss auf die Sci-Fi-Branche immens. Anfang der 90er wurden sie im Ausland zu den beliebtesten sowjetischen Sci-Fi-Schriftstellern und in bis zu 27 Ländern veröffentlicht – ein Erfolg, den russische Autoren im Westen selten erlebten. Ihre Geschichten sind allerdings keine wirklichen Kabinettsstücke der Sci-Fi, denn die Strugatzkis haben immer versucht, nicht nur über Raumschiffe und Technologien zu schreiben, sondern auch über den Menschen, dessen Psychologie und die Gesellschaft. Sie waren also keine Vertreter der Hard-Sci-Fi, sondern solche des Soft-Sci-Fi. Generell haben sie ihre Geschichten immer genreübergreifend erzählt und vereinen russische Erzähl- und Märchentradition mit Phantastik und Sci-Fi.
Der britische Auftakt
Auch Hotel zum verunglücktem Bergsteiger ist eine solche Promenadenmischung. Die Geschichte beginnt wie ein typisch britischer Kriminalroman. Der Fokus liegt auf der Vorstellung des skurrilen Casts im Hotel. Die leutselige Dame Frau Moses entpuppt sich als Nymphomanin, der Illusionist Barnstoker stellt den Hotelgästen Streichen, der Anwalt Hinkus ist ein Hypochonder und Trinker und sitzt die ganze Zeit mit Waffe und im Pelzmantel eingemummelt auf dem Dach herum etc. Einer der mitunter interessantesten Charaktere ist das Kind Brun, über das die Strugatzkis immer ambivalent schreiben. In manchen Szenen ist es ein frecher, intelligenter Lausbub, unfassbar für alle anderen, in einer anderen Szene macht sich einer der Erwachsenen mit eindeutig sexueller Absicht an Brun heran und Brun wirkt hilflos und gar nicht mehr so spottend-überlegen. Die Charakterisierungen und die Beschreibung der ominösen Stimmung, in der so ziemlich alles im Alltag mystifiziert wird, nimmt einen so großen Stellenwert ein, dass der Voranschreiten der Geschichte als schleppend wahrgenommen werden kann. Im Idealfall merkt das der geneigte Leser aber nicht, weil die satirisch überzeichneten Figuren ihn gescheit davon ablenken.
Die Fragezeichen häufen sich
Wie es sich für einen britischen Kriminalroman gehört, folgt nach der ausgiebigen Einzelvorstellung noch eine illustre gesellschaftliche Abendrunde (meistens ein Dinner, so auch hier), bei der sich alle Originale ein letztes Mal an einem Tisch drubbeln, ehe dann der Tote aufgefunden wird – und das sogar in einem verschlossenen Raum. Dass dann noch eine Lawine abgeht und das Hotel von der Außenwelt abschneidet, macht das Bild komplett. Inspektor Glebski muss von nun an auf sich gestellt ermitteln, auch wenn er in seinem Urlaub gar keinen wirklichen Bock darauf hat. Bei dem Toten liegt zudem ein nicht identifizierbares Gerät und hier wird allmählich klar, dass die Story in die Phantastik abdriften könnte. Ein verspäteter Gast, der unterkühlt und nur mit einem Arm um Unterkunft im Hotel bittet ist nur ein weiteres Mosaikstück in diesem verrückten Puzzle.
Der Salto hin zum „First Contact“
Wie eingangs bereits erwähnt, habe die Strugatzkis mit Hotel zum verunglücktem Bergsteiger freilich kein simples Whodunit rausgehauen. Vielmehr entwickelt sich die Geschichte gegen Ende zu einer Geschichte über den ersten Kontakt. Das Problem mit Detektivgeschichten sei, so die Gebrüder, dass zum Ende – egal wie fesselnd die Wendungen der Untersuchung bis dahin gewesen waren – die Leser einen unvermeidlichen Rückgang des Interesses erleben, sobald das wer, wie, warum enthüllt wird. An diesem Punkt, wenn das Interesse zurückgeht, machen die Gebrüder also einen „Salto“, wie sie es nennen; eine Geschichte endet und macht den Weg frei für einen anderen Weg. Nun, nach Einschätzung der Gebrüder ist der Salto keine Punktlandung geworden, aber auf diese Weise bietet das Buch immerhin viel Stoff, um darüber zu sprechen. Und trotz der vielen Situationskomik und Skurrilitäten, die die Geschichte bis dahin durchzogen haben, endet der Roman vergleichsweise bitter. Durch Glebskis Widerwillen bei seinen Ermittlungen bzw. seine zögernde Haltung, seine Befürchtungen und Zweifel, kommt es zu einem tragischen Finale im Schnee. Und die Message?
Fazit
Agatha Christie im Sci-Fi-Wunderland – so fühlt sich Hotel zum verunglückten Bergsteiger mitunter an. Die Figuren sind überspitzt und anschaulich gezeichnet und überall wabert dieser herrliche Humor der Strugatzkis im Hintergrund herum – zu gleichen Teilen albern und todernst. Vielleicht ist der Roman ein gescheitertes Krimi-Experiment und vielleicht ist es auch nicht der beste Roman der Gebrüder, vielleicht ist das Setting zu gewöhnungsbedürftig und der Plot anfangs zu träge – trotzdem hatte ich meine Freude an diesem dann doch kurzweiligen und mehrseitigen Salto, und wer sich auf die Stimmung und die Charaktere einlässt, den erwartet mit Hotel zum verunglückten Bergsteiger sicherlich eine unterhaltsame Lektüre.