The Ninth (Band 2): Ich bin Harrow

Auf manche Wiederauferstehungen muss man zum Glück nicht lange warten. Nach dem Erfolg ihres Debütromans Ich bin Gideon ist Tamsyn Muir nun zurück mit der Fortsetzung ihrer The Ninth-Reihe: Ich bin Harrow. Einmal mehr darf man (seit September 2021 in deutscher Übersetzung durch Kirsten Borchardt beim Heyne-Verlag veröffentlicht) also die durch Totenmagie geformte Zukunft dieser Nekropunk-Welt betreten, doch dieses Mal ohne Gideon Nav. Wie der Titel schon sagt, steht dieses Mal Gideons Mitstreiterin Harrow im Mittelpunkt, doch die ist sich zunächst selbst nicht sicher, wer Harrow genau ist.

Harrowhark Nonagesimus, ehrwürdige Tochter des Neunten Hauses, hat ihr Ziel erreicht: Sie ist Lyctorin geworden und kann somit ihr vor dem Aussterben stehendes Haus retten. Auch wenn sie dieses Ziel für einen Preis erreicht hat, den sie eigentlich nicht hatte zahlen wollen. So oder so findet sie sich nun auf der Erebos, dem Flaggschiff des Imperators, wieder und tritt mit der einzig anderen (auffindbaren) Überlebenden der Ereignisse in Haus Canaan, Mit-Lyctorin Ianthe Tridentarius, ihren Dienst als Heilige des Imperators an. So zumindest der Plan, doch Harrow verträgt ihr neues Dasein als Lyctorin, welche eigentlich fast unzerstörbar sein sollten, eher schlecht: Sie hat immer wieder zeitliche Aussetzer, sie scheint nur bedingt Zugriff auf die Kräfte zu haben, die sie haben sollte, und besonders ein Zweihand-Schwert, das ihr der Imperator geschenkt hat, ist ihr ein einziger Quell des Unwohlseins, wodurch sie mehr Zeit damit verbringt, zu kotzen, als mit irgendwas anderen. Auch überreicht ihr Ianthe eines Tages plötzlich einen ganzen Stapel an Briefen, verfasst in der Handschrift von Harrow selbst und mit einem Code verschlüsselt, den ebenfalls nur Nonagesimus kennen kann. Es sind Nachrichten von ihr selbst, einem vergangenen Ich, das nach eigenen Angaben gestorben ist. Die meisten sind jedoch nur unter Konditionen zu öffnen, die Harrow unwahrscheinlich bis gänzlich unmöglich erscheinen und so irritierend das Ganze auch ist, hat sie noch eine ganze Reihe anderer Probleme. So soll sie mit Ianthe unter den anderen drei verbliebenen ursprünglichen Lyctoren im Mithräum (einer Raumstation und geheimer Sitz des Imperators) genug lernen, um mit ihnen gemeinsam gegen eine Auferstehungsbestie zu kämpfen, dem Wiedergänger eines gewaltsam ermordeten Planeten. Außerdem hat Harrowhark noch das nicht unerhebliche Problem, dass sie verrückt ist und nicht immer Realität von Einbildung unterscheiden kann.

Verkleinerter Figurenkreis

Originaltitel Harrow the Ninth
Ursprungsland USA
Jahr 2020
Gattung Roman
Band 2/4
Genre Science-Fiction, Fantasy, Nekropunk
Autorin Tamsyn Muir
Verlag Heyne
Veröffentlichung: 13. September 2021

Was die Anzahl der Figuren angeht, hat Ich bin Gideon den Lesenden teilweise viel abverlangt und sie wahrscheinlich oft dazu veranlasst, immer wieder zurück in die anfängliche Dramatis Personae zu blättern, um bei den vielen Namen den Überblick zu behalten. Im zweiten Band ist das Feld bedeutend überschaubarer, da der Großteil der Handlung sich im Mithräum abspielt, wo die fünf Lyctoren (Harrow, Ianthe, Mercymorn, Augustine und Ortus) und der Imperator unter sich bleiben. Auch wenn Harrow eigentlich hart wie ein Sargnagel und nicht leicht aus der Ruhe zu bringen ist, bringt sie ihre neue Umgebung jedoch schnell an ihre Grenzen, denn es ist ein einziges Minenfeld. Ianthe ist eine falsche Schlange, der man nicht trauen kann, Augustine genauso, nur mit zehntausend Jahren mehr Übung, die impulsive Mercymorn scheint nur gelegentlich alle Teile ihres Verstands zusammenkratzen zu können und Ortus … na ja, Ortus der Erste ist weniger kompliziert: Er will Harrow schlicht umbringen. Der Einzige, der Harrow mit väterlicher Freundlichkeit zu begegnen scheint, ist der Imperator (sein Name ist übrigens John). Doch erfahrungsgemäß ist bei unsterblichen Imperatoren, welche die Göttlichkeit für sich beanspruchen, immer etwas Vorsicht geboten. Zudem scheint es zwischen Gott und den anderen drei Ü-10000 Nekromanten auch eine ganze Reihe an verdrängten Unstimmigkeiten aus der langen, gemeinsamen Vergangenheit zu geben.

Handlung: Weniger Agatha Christie, mehr Shutter Island

Während Ich bin Gideon bei allem innovativen Worldbuilding im Handlungskern letztlich dem sehr beliebten Krimi-Szenario der „Zehn kleinen Mordopfer“ folgt (die in einem abgeschotteten Ort einen Serienkiller unter sich haben, der sie nach und nach ausschaltet; maßgeblich: Agatha Christies Und dann gabs keines mehr), hat Ich bin Harrow wohl eher eine Psychothriller-Grundlage. Zwar wird auch hier in den Kapitelüberschriften ein Mord angekündigt, doch wer diesen warum begehen könnte, ist eher eine Begleitnote. Schnell wird nämlich klar, dass nicht nur Harrowhark über Aussetzer klagt, sondern auch die Lesenden dazu Anlass haben, denn zwischen dem ersten und zweiten Band gibt es eine entscheidende Ereignislücke. In diese fällt nicht nur Harrows Verfassen der Briefe an sich selbst, auch etwas anderes muss vorgefallen sein, das Harrows Gehirn ziemlich durcheinandergerührt hat. In Rückblicken stellt sich heraus, dass Harrows aktuelle Erinnerungen an die Geschehnisse in Haus Canaan ziemlich anders sind, als die aus Ich bin Gideon bekannten. Der größte Unterschied ist dabei, dass Gideon dort nicht vorkommt und stattdessen der verstorbene Ortus (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Lyctor) ihre Stelle als erster Kavalier eingenommen hat, woraus sich eine alternative Kette an Ereignissen entwickelt. Auch Harrows Offenbarung, dass sie verrückt ist (was sich dadurch manifestiert, dass sie Erscheinungen ihrer geliebten Verblichenen aus der ewig verschlossenen Gruft hat), führt dazu, dass man die aus Harrows unzuverlässiger Perspektive getätigten Aussagen schnell anfängt zu hinterfragen. Die Geschichte ist so (für Harrow wie für die Lesenden) ein ständiges Ringen um die Wahrheit, um das, was echt ist und um die fehlenden Puzzlestücke zwischen Band 1 und 2. Dazu kommen noch konkretere Gefahren auf der Station, wie die eine oder andere Leiche im Keller und Lyctoren mit undurchsichtigen Zielen, die Harrow offen oder insgeheim umbringen wollen. Das Lesen von Ich bin Harrow ist spannend und unterhaltsam, aber zudem auch von einer großen Unsicherheit und feindartigen Unruhe gekennzeichnet, bei der jederzeit alle Annahmen über den Haufen geworfen oder neu bewertet werden können.

Ein Fleisch, ein Ziel

Ein großer Schnitt im zweiten Band ist dabei der Wechsel der Protagonistinnen. Zudem ist es ein mutiger Schnitt, denn für viele Lesende dürfte besonders Gideon Nav mit ihrem Humor und direkten Einbahnstraßen-Denken einen großen Sympathie-Bonus beigesteuert haben. Harrowhark erweckt im ersten Band dagegen zunächst den Eindruck eines an Bösartigkeit schwer zu überbietenden Mysteriums, das lange Zeit unnahbar wie auch undurchschaubar bleibt und erst spät Einblick in ihr Innenleben gewährt. Da sich Harrow nunmehr selbst recht fremd geworden ist, ist eben dieses Innenleben im zweiten Band ein einziges Chaos, in jedem Fall aber von einem größeren analytischen Denken gekennzeichnet. Der „Nekromanten-Kram“, der Gideon schlicht zu hoch gewesen ist und sie (wie vieles andere, was keine attraktive Frau oder ein Schwert ist) auch nicht interessiert hat, ist Harrows Brot und Butter. Entsprechend lernt man mehr über Thanergie, Thalergie und die theoretischen Mechanismen der Nekromantie. Auch ist Harrow bedeutend neugieriger und darauf aus, Zusammenhänge zu verstehen, sodass sich den Lesenden zunehmend auch ein breiteres Wissen über die Geschichte der Neun Häuser eröffnet und was jenseits des Dominicus-Systems liegt. Das Neunte bringt letztlich aber doch einen gewissen Personenschlag hervor, sodass der Schnitt nicht radikal ausfällt. Harrows Beobachtungen sind ähnlich bissig und sarkastisch wie die Gideons (wenn nicht sogar noch mehr) und auch die gezielten Einsätze des aus dem Nichts kommenden, vulgärsprachlichen Vorschlaghammers bereichern einmal mehr das hochgradig unterhaltsame Leseerlebnis.

Über das Du beim Erzählen

Du wirst jedoch auch feststellen, dass ein Großteil von Ich bin Harrow in der Du-Form geschrieben ist. „Okay, seltsam …“, wirst du kritisch sagen und dich am Kopf kratzen … oder auch nicht, keine Ahnung. (Woher soll ich das wissen?) Auf jeden Fall: Bekanntermaßen sind Romane meist in der 1. (Ich-Erzählfigur) oder wie Ich bin Gideon in der 3. Person (Sie/Er) verfasst. Bedeutend seltener hingegen ist die Verwendung der 2. Person, also das Vorkommen einer Du-Erzählfigur. Verständlich, denn während 1. und 3. Person oft darauf verweisen, ob es eine interne oder wechselnde Figuren-Perspektive gibt oder ob die Erzählfigur innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt existiert, kann man über Sinn und Zweck des Du eher streiten (du, Lesende*r, machst jetzt gerade dies und das, während du das liest und sowieso jemand anderes bist?). Bei der Fähigkeit der Lesenden, sich in Welt und Figuren einzufühlen und die Handlung mitzuerleben, spielt eine Du-Anrede weniger eine Rolle, als eben die Möglichkeit zur Empathie und die figürliche Wahrnehmungsperspektive. Wie beim epischen Präteritum verliert das Du bei einer Du-Erzählfigur daher etwas seinen grammatischen Zweck. Gerade in der jüngeren Phantastik wird die Du-Erzählfigur aber immer beliebter. Jeff Vandermeer verwendet sie für die Psychologin in Akzeptanz, dem Abschluss seiner Southern Reach-Trilogie oder auch N. K. Jemisin für diverse Abschnitte in Zerrissene Erde. Der voreilige Schluss liegt nahe, dass es sich hierbei um eine Modeerscheinung handelt, den Wunsch kreativ zu erscheinen, obwohl die Du-Erzählfigur ein alter Hut ist, den trotz diverser Experimente über die unterhaltungsliterarischen Jahrhunderte hinweg niemand wirklich haben wollte. Aber der Schluss wäre, wie gesagt, voreilig. Vandermeer benutzt das Du, um eine bestimmte Figurenperspektive zu kennzeichnen, Jemisin um zusätzlich die gegenwärtige von einer vergangenen Perspektive derselben Figur zu markieren. Muir verfährt hier genauso und unterscheidet zwischen den gegenwärtigen Ereignissen in der Du-Form und der Aufarbeitung der alternativen Haus Canaan-Ereignisse in der 3. Person. Auch sei daran erinnert, dass Lyctoren sich letztlich die Seelen ihre Kavaliere einverleiben und besonders hinsichtlich dieser Tatsache löst sich der Knoten von Muirs-Spiel mit den Personen spät in der Geschichte auf eine sehr sinnvolle (und wundervolle) Weise. Wenn dich also die Du-Form anfangs irritieren sollte, sieh drüber hinweg, bleib dran, es wird sich lohnen.

Fazit

Kreativität zu definieren, ist nicht leicht, aber in der Regel bedeutet es, sich etwas auszudenken, was sich bisher noch niemand in dieser Form ausgedacht hat. Das hat Tamsyn Muir mit ihrem Nekropunk-Setting wohl in jedem Fall. Die Sache ist nur, dass solche Kreativität nicht viel wert ist, wenn man sie auch nicht schriftstellerisch entsprechend umsetzen kann, aber auch das schafft Muir (und wie!). Anstatt das Erfolgsrezept von Band 1 einfach aufzuwärmen, führt Band 2 die Geschichte mit neuer Protagonistin, neuem Handlungsansatz und sogar neuer Erzählweise fort und schafft so etwas Bestehendes organisch weiterzuführen und es sich zugleich als etwas frisches und eigenes anfühlen zu lassen. Die Handlung rund um Imperator, Lyctoren und Harrows zerschredderten Geist entwickelt einen Sog, den man sich beim Lesen schwer entziehen kann und den man sprachlich immer wieder begeistert ein High-Five verpassen möchte. Service Info: Die Veröffentlichung des dritten Bandes Nona the Ninth (in deutscher Übersetzung voraussichtlich wohl “Ich bin Nona”) ist bei Tor Books für den Herbst im Jahr 2022 angekündigt. Zwischen dem USA-Release und dem Deutschland-Release lagen übrigens einmal sieben und einmal 13 Monate, sodass man wohl irgendwo zwischen Sommer und Winter 2023 hierzulande damit rechnen könnte.

© Heyne

Lyxa

Lyxa studiert aktuell das Fach Und-was-macht-man-damit in Mainz, liest viel, schreibt gerne und schaut sich viel und gerne allerlei Serien und Filme an, am liebsten Science-Fiction. Lyxa ist dabei besonders der Dunklen Seite der Macht verfallen, weil es dort die cooleren Outfits gibt.

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