Shangri-La

Eine unbewohnbar gewordene Erde. Eine übervölkerte Raumstation im Orbit. Ein wohlmeinender Konzern sichert das (Über-)Leben. Beste Aussichten für die Menschheit, um zu überleben und einer positiven Zukunft ins Auge zu sehen, so scheint es. Doch so gnädig geht Mathieu Babet in seiner in Frankreich bereits 2016 erschienenen Graphic Novel Shangri-La weder mit einzelnen Charakteren noch mit der Menschheit insgesamt um. Auf bildgewaltigen 222 Seiten wirft er einen genaueren Blick darauf, wo Menschen ihr Shangri-La suchen. In einer Welt, in der alle Bedürfnisse gestillt werden können? In einer Zukunftsvision? Oder vielleicht ganz woanders? Das packende Epos ist seit Juni 2021 in der deutschen Übersetzung im Programm des Splitter Verlags zu finden.

     

Als einziges Lebewesen weit und breit beobachtet ein Zeitreisender die Entstehung einer Supernova aus nächster Nähe. Eine Million Jahre später wird die Geschichte dieses Mannes, Scott, erzählt. Seit die Erde vor vielen Generationen unbewohnbar wurde, leben die Menschen auf einer Raumstation, die um ihren Heimatplaneten kreist. Die USS Tianzhu wird von Tianzhu Enterprises geleitet, einem gütig wirkenden Konzern, der den Bewohnern, Menschen und Animoiden, ein sorgenfreies Leben bietet. Alle sind gleichgestellt, Religionen gibt es nicht mehr. Wer für Tianzhu Enterprises arbeitet, erhält die Möglichkeit, sich mit den Konsumgütern des Konzerns einzudecken. Doch die Idylle trügt. Die beengten Verhältnisse auf der Raumstation sorgen für Spannungen unter den Menschen, die sie an den von ihnen aus Haustieren geschaffenen Animoiden auslassen. Dazu lehnen einige die umfassende Regulierung ihres Lebens ab und sorgen für Unruhen. Während Scott als Astronaut für den Konzern, dem er blind vertraut, gefährliche Experimente der unabhängig agierenden Wissenschaftler untersucht, steht sein Bruder Virgil der Sache kritisch gegenüber. Als die Wissenschaftler die Erschaffung einer neuen Menschenspezies verkünden, der auf dem Titan angesiedelt werden soll, bricht sich der Frust bei vielen Bahn. Zwischen Vertrauen und Misstrauen hin- und hergerissen muss Scott sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

Ein zögerlicher Held

Originaltitel Shangri-La
Jahr 2016
Land Frankreich
Genre Science-Fiction
Autor Mathieu Bablet
Zeichner Mathieu Bablet
Verlag Splitter (2021)
Veröffentlichung: 23. Juni 2021

Mit der breiten, unwissenden und auch uninteressierten Masse auf der einen und den hinterfragenden, aufbegehrenden Wenigen auf der anderen Seite bildet Scott die Mitte ab. Er vertraut Tianzhu Enterprises blind und liebt die Arbeit, die ihm zugewiesen wurde. Doch obwohl er sein eigenes Leben ohne Einwände hinnimmt und sich durch die Kosumvorgaben manipulieren lässt, bezieht er in seiner Arbeit ganz klar Stellung, hinterfragt die Ergebnisse seiner Nachforschungen und fordert weitere Informationen an. Es stört ihn, dass ihm diese Informationen und ein persönliches Gespräch mit den Führern der USS Tianzhu verweigert werden, und der Frust darüber führt langsam dazu, dass er sich für die Argumentation derer öffnet, die sich durch das System kleingehalten fühlen. Scotts Entwicklung ist hierbei nachvollziehbar dargestellt. Wie alle anderen auch schützt er sich, indem er sich abschottet und alles um ihn herum ignoriert, was Schwierigkeiten bedeuten könnte. Er braucht seine Zeit, bis er in der Lage ist, andere Ansichten zuzulassen und seine Einstellungen zu überdenken. Seine Teilnahme an der Gegenbewegung verläuft allerdings eher zögerlich, er fühlt sich unsicher und ist mit den unkontrollierbar ablaufenden Ereignissen sichtbar überfordert. Und so rutscht er problemlos wieder zurück in das System, welches für ihn Sicherheit bedeutet, bevor er sich entgültig entschließt, eigenverantwortlich zu handeln. Doch genau dieser Ablauf macht deutlich, wie schwer es ist, sich aus einem bequemen System zu lösen.

Der Mensch als (k)ein soziales Wesen

Trotz des scheinbar idyllischen Lebens auf der Raumstation scheinen die Beziehungen der Menschen untereinander eher oberflächlicher Natur zu sein. Die beiden Brüder Scott und Virgil stehen sich nicht besonders nahe, zumindest was Scott betrifft. Dieser stellt seine Loyalität zu Tianzhu Enterprises über familiäre Beziehungen, obwohl Virgil sich alle Mühe gibt, seinem Bruder nahezukommen. Die Enge an Bord fordert auch ihren Tribut, was soziales Miteinander und Empathiefähigkeit angeht. So nehmen die Menschen einander nicht mehr wahr, ganz gleich, ob direkt neben ihnen Geheimnisse besprochen oder Animoiden misshandelt werden; diese Begebenheiten werden einfach ausgeblendet, niemand greift ein. Jede*r lebt für sich allein, eingepfercht in eine klaustrophobisch-enge, deprimierend karge Einzelunterkunft. Der Zusammenhalt, der durch einheitliche Kleidung und für jeden verfügbare gleiche Konsumgüter suggeriert wird, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Dennoch wirken diese Einzelgänger nicht besonders individuell, dazu gleichen sie sich in ihrer inneren Haltung zu sehr. Ohne ihre Lebensumstände zu hinterfragen und lediglich dem vorgegebenen Konsumterror folgend bilden die Bewohner eine undifferenzierte Masse, die aus beliebig austauschbaren Bestandteilen besteht. Die Einzelnen, die sich dank ihrer kritischen Haltung zum System daraus hervorheben, bilden allerdings keine Einheit, da die Kompromissbereitschaft sehr niedrig ist und dadurch kein gemeinsames Vorgehen stattfinden kann.

Abgründe tun sich auf

Mathieu Bablet packt in seine Erzählung Shangri-La jede Menge Gesellschaftskritik hinein. Mit Manipulationen hält eine kleine Gruppe von Privilegierten seit Generationen ein System am Laufen, welches lediglich ihnen von Nutzen ist, und bedient sich zu diesem Zweck äußerst fragwürdiger Mittel. Durch gezielte Konsumanreize wird die Masse ruhiggestellt und jede Individualität unterdrückt. Niemand hinterfragt, wie diese Güter hergestellt werden, was die Ausbeutung Schwächerer möglich macht. Mit der Diskriminierung von Minderheiten, anhand der Animoiden deutlich gemacht, können die Menschen ihren Frust abreagieren und sich überlegen fühlen. Während die Wissenschaft zukunftsorientiert aufgestellt ist, ignoriert sie die Gegenwart und vernachlässigt die Erde und die Menschen auf der Raumstation. Genmanipulationen und Experimente mit Antimaterie nehmen Ausmaße an, die die Existenz der Raumstation bedrohen, dennoch werden sie fortgeführt. Rebellen, die das bestehende System stürzen wollen, sind lediglich daran interessiert, ihr eigenes, ebenso ausbeuterisches System zu etablieren. Die Medien sind vom System abhängig und nicht in der Lage, frei und unabhängig zu agieren. All diese Mechanismen sind keinesfalls Utopie, sondern lassen sich ohne Probleme in unserer Gegenwart auffinden. Und wenn dann alle Dämme brechen und die Gewalt ungezügelt hervorbricht, wird der Mensch zu einem Wesen, für welches sich niemand mehr Rettung wünschen möchte.

Von den Bildern in den Bann gezogen

Mathieu Bablet erzählt seine Geschichte mit beeindruckenden Bildern, die die Lesenden vom ersten Moment an einfangen und mit sich ziehen. Gerade Panels vermitteln Klarheit, die farbliche Gestaltung Ton in Ton sowie detaillierte Hintergründe erinnern an Werke von Moebius, während in der Eingangssequenz die Titelmelodie von Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum mitzuschwingen scheint. Die drangvolle Enge in der kalten und teilweise heruntergekommen wirkenden Raumstation bringt Bablet dabei ebenso gut zur Geltung wie die Weite und Erhabenheit des Alls. Und seine Darstellung der Erde ist umwerfend, sie erweckt Sehnsüchte nach dem Paradies, welches verloren wurde. Dagegen wirken die Darstellungen der Menschen grob und undifferenziert, sie haben kaum Merkmale, die sie von anderen unterscheiden, und ihre Geschlechter sind schwer zu erkennen. Das ist zunächst ungewohnt, doch im Verlauf der Geschichte wirkt diese Darstellung immer passender. Mathieu Bablet behält diese Darstellungsform bis zum Schluss bei, wenn er einen Blick 30.000 Jahre in die Zukunft wirft, wobei er hier ganz ohne Worte auskommt und lediglich die Bilder sprechen lässt.

Fazit

Shangri-La ist ein Werk, welches Eindruck hinterlässt und nachdenklich macht. Die Graphic Novel strahlt vom ersten Moment an eine Hoffnungslosigkeit aus, die durch die angesprochenen Themen noch verstärkt wird. Parallelen zu unserer heutigen Zeit sind unübersehbar. Dennoch ist Mathieu Bablets Werk absolut lesens- und ansehenswert, zumal sich viel in den Bildern entdecken lässt, manches erst beim zweiten oder dritten Lesen, und die Geschichte dadurch immer mehr Gehalt bekommt. Welches Shangri-La wirklich erstrebenswert ist, bleibt den Lesenden selbst überlassen zu entscheiden.

© Splitter Verlag


Veröffentlichung: 23. Juni 2021

 

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