Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

Der unglaubliche Hulk, Gwen Stacy und Batman vereint – in einem Film über einen abgehalfterten Ex-Superhelden mit Torschlusspanik, der versucht, seiner Existenz am Broadway wieder Bedeutung zu verleihen. Mit Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) warf Regisseur Alejandro González Iñárritu (The Revenant – Der Rückkehrer) im Jahr 2014 eine trotzige, anti-formelhafte Showbiz-Satire auf den Filmmarkt, die die vier wichtigsten Oscars abräumte und Michael Keaton damit das Comeback des Jahrhunderts bescherte.

 

Birdmans Geschichte handelt von dem verblassten Filmschauspieler Riggan Thomson (Michael Keaton, Batman), der seine einstige Paraderolle des Superhelden Birdman aufgegeben hat, um am Broadway endlich glaubwürdig und beudeutungsvoll zu werden. Dazu spielt er die Hauptrolle in einer selbst finanzierten Adaption einer Raymond Carver-Erzählung. Mit dabei: Sein Anwalt Jake (Zach Galifianakis, Hangover) und seine drogensüchtige Tochter Sam (Emma Stone, The Favourite – Intrigen und Irrsinn), die Riggan als persönliche Assistentin einstellt, um so seine väterlichen Versäumnisse von früher nachzuholen. Riggan selbst hat eine halbverdeckte Beziehung mit seiner Kollegin Laura, die wiederum was mit der Hauptdarstellerin Lesley (Naomi Watts, Gypsy) hat, die wiederum das Ganze vor ihrem hyperaktiven und narzisstischen Freund (und ebenfalls Schauspieler) Mike Shiner (Edward Norton, Zwielicht) verstecken muss. Als die Premiere näher rückt, hört Riggan immer öfter die Granitstimme seines Alter Ego Birdman, der ihn dazu bringen will, das Theater zu vergessen und zu seinem wahren Talent zurückzukehren: Geld scheffeln mit Blockbustern.

Aus Batman wird Birdman

Originaltitel Birdman
Jahr 2014
Land USA
Genre Schwarze Komödie
Regisseur Alejandro González Iñárritu
Cast Riggan Thomson: Michael Keaton
Sam Thomson: Emma Stone
Mike Shiner: Edward Norton
Jake: Zach Galifianakis
Lesley: Naomi Watts
Laufzeit 119 Minuten
FSK

Michael Keaton – wir erinnern uns? Von 1989 bis 1992 spielte er Tim Burtons Batman, erzielte damit den großen Durchbruch, wurde dann von Val Kilmer ersetzt und ward seitdem nie wieder im Superhelden-Milieu gesehen (bis Spider-Man: Homecoming (2017), aber das ist gerade unerheblich). Wenn man sich also diesen biographischen Abschnitt von Keaton vor Augen ruft, betrachtet man Birdman gleich ganz anders. Man könnte meinen, dass Riggans sämtliche Verbitterung, die er in dem Film empfindet, durch Keatons eigenen Erfahrungen in der Filmbranche gespeist wird. Riggan ist ein gefallener Mann (mit telekinetischen Kräften), der Probleme mit Tochter, Ex-Frau, Kollegen und vor allem mit sich selbst hat – mit sich selbst und dieser zweiten Stimme in seinem Kopf (dessen Gestalt sich erst im letzten Viertel offenbart).

Birdman hat den Längsten …

Manche Film-Szenen sind leicht zu bewerkstelligen, andere dagegen erfordern ein hohes Maß an Planung und Präzision. Dazu zählt auch der Single Shot (oder long take): die lange Aufnahme ohne Schnitt. Der Single Shot kann eine trickreiche Bestie sein, nur schwer zu zähmen, aber wenn er gelingt, denkt sich der Zuseher oft nur „Mensch, wie prächtig“. Beispiele für Single Shots sind die Dreirad-Tour des Danny Torrance in The Shining oder aber die Totenwache-Szene in Episode 6 von Spuk in Hill House. Filmemacher, denen das noch zu einfach ist, stellen gleich einen kompletten Film aus einem einzigen Single Shot her bzw. sie erwecken den Eindruck dessen. Zur dieser zweiten Kategorie gehört auch Birdman. Die Kamera wandert, schleift, zieht und fliegt; die Kulissen, die Belichtungen, die Menschen, ja sogar die Zeitebenen wechseln fließend. Man könnte schon fast sagen, das Genie von Birdman liegt vor allem in der Kinematographie. Als Kameramann hierbei fungierte der bislang drei Mal mit dem Oscar ausgezeichnete Emmanuel Lubezki (Gravity, The Revenant – Der Rückkehrer).

Das Theater als Midlife-Crisis

Als Zuseher möchte man vielleicht nur geerdet einen Film gucken und vielleicht auch mal stabil in der Szene verweilen, aber Lubezkis Kamera ist dagegen. Ruhelos heftet sie sich immerzu an irgendeine Figur und verfolgt sie durch das Theatergebäude. Man sieht das Theater in all seinen Facetten, jeden Nebenraum, jedes Techtelmechtel, jeden Bühnenroadie mit köprerlichen Besonderheiten, jede ausgetrete Treppenstufe, jede Schmutzecke. Das Theater ist der heimliche Star, denn zu 3/4 des Films stellt es die Bühne. Darüberhinaus zeigt es auch vortrefflich den inneren Zustand von Riggan: verwinkelt, chaotisch, nicht wirklich zu begreifen – genau so wie Riggan selbst, der offenbar fliegen kann und wie gesagt telekinetische Fähigkeiten besitzt. So richtig checken tut man das zunächst nicht.

Ein inneres Blumenpflücken für Drummer

Auch die Musik zeigt Riggan, denn sie ist genauso ruhelos. 90% des Soundtracks ist reine Schlagzeugmusik, eingespielt von Antonio Sanchez und ausgezeichnet mit dem Grammy Award for Best Score Soundtrack 2016 (Birdman hat bei diesem Grammy-Rennen sogar den Schlagzeugkollegen Whiplash abgehängt). Manchmal ist die Drummucke normales Underscoring, manchmal aber handelt es sich bei ihr um diegetische Musik – also Musik, die tatsächlich in dem fiktionalen Setting gespielt und von den Figuren gehört wird. Manchmal überrascht es, wenn man eigentlich von Underscoring ausgeht, dann aber irgendwo ein Drummer auftaucht und aus dem Underscoring plötzlich diegetische Musik wird. Die restlichen 10% des Soundtracks werden von Mahler, Tschaikowsky und Rachmaninoff besetzt. Dabei kann man, wenn man denn lustig ist, beobachten, für welche Bereiche welche Musik verwendet wird. Klassik = Imagination, Drumset = harte Realität? Zum Ende des Films geht diese Einteilung nicht mehr so ganz auf.

Theater vs. Film

Birdman handelt vor allem von der Diskrepanz und der Konkurrenz zwischen Theater und Film, zwischen Broadway und Hollywood. Kritiker behaupten, dass Riggan in seiner Rolle als Birdman nie ein Schauspieler war, sondern immer nur ein Promi – ganz weit weg von der Seele eines wahren Künstlers. Denn die wahre Kunst liege im Theaterspiel, Filme und Blockbuster dagegen seien für die Tonne. Riggan selber geht mit dieser Kritik hart ins Gericht, so dass Birdman an dieser Stelle auch Kritik an der Kritik übt. Interessant ist, dass Birdman selbst wie eine Symbiose beider Kulturen wirkt, denn das Drehbuch fühlt sich an wie Theater: Schwarzer Humor, Drama, psychologischer Realismus, allgemeiner Surrealismus (bei Netflix heißt es auch magischer Realismus). Die visuelle Umsetzung dagegen profitiert ungemein von den Möglichkeiten des Films, von den Kamerafahrten und dem CGI. Vor allem das letzte Szenen-Konglomerat aus dem Meteor, der Marching Band, dem Spider-Man, den toten Tieren am Strand und dem Soundtrack zeigen die Vorzüge des Films.

Fazit

Birdman ist ein sehr sehr faszinierender Film. Liegt’s am (Pseudo-)Single Shot? Vermutlich. An der Drumset-Mucke? Auch. Stilistisch und handwerklich ist der Streifen ‘ne echte Hausnummer. Faszinierend beleuchtete Theaterkulissen gehen nahtlos über zum echten Time Square draußen vor der Tür; befindet sich der Film gerade noch im mimiknahen Drama-Modus, tauchen aus dem Nichts plötzlich blockbustermäßige CGI-Effekte auf; und die Kamera hat die Zuseher immer im Schlepptau und man weiß nie, welcher Knüller um die nächste Ecke auf einen wartet. Das kann Birdman anstrengend machen, aber eben auch extrem faszinierend.

© 20th Century Fox Home Entertainment

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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