Chaos Walking
Manchmal kann man wohl froh sein, wenn es ein produzierter Film schafft, überhaupt noch veröffentlicht zu werden. Chaos Walking – die Verfilmung von Patrick Ness‘ Sci-Fi- und Young Adult-Roman Die Flucht, dem ersten Band seiner New World-Trilogie (im Englischen: Chaos Walking-Trilogie) – kann diese Art von Frohsein wohl für sich beanspruchen. Dem ursprünglichen Dreh unter der Regie von Doug Liman (Edge of Tomorrow – Live.Die.Repeat) 2017 folgten 2019 wochenlange Reshoots und das ursprünglich geplante Releasedatum musste pandemiebedingt dann ebenfalls mehrmals verschoben werden, ehe es im März 2021 endlich soweit war. Seit dem 14. Oktober 2021 ist Chaos Walking durch Studiocanal auch auf (4k-)Blu-ray und DVD erhältlich, sodass man laut darüber nachdenken kann, sich den hochkarätig besetzten Film für die Heimkino-Videothek zuzulegen.
Es ist das Jahr 2257 und die Menschheit hat eine neue Welt mit dem (vielleicht etwas zu naheliegenden) Namen New World besiedelt – doch es läuft alles andere als ideal. Zum einen hat New World intelligente und nicht-irdische Ureinwohner (die Spackle), die in einem Krieg mit den Siedlern deren weibliche Bevölkerung ausnahmslos getötet haben. Zum anderen müssen die überlebenden Männer mit Nebeneffekten ihres neuen Heimatplaneten klarkommen, dem sogenannten Lärm. Dieser äußert sich dadurch, dass ihre Gedanken wie eine wahrgewordene Denkblase laut hörbar und in Form einer nebelig blitzenden Lichterscheinung auch einsichtbar sind, sodass es unmöglich scheint, ein Geheimnis für sich zu behalten. Der jüngste Überlebende unter ihnen ist der aufgeweckte Todd Hewitt. Soweit er weiß, ist sein Dorf Prentisstown die einzig verbleibende Siedlung und er mit dem Schicksal gestraft, irgendwann der letzte Mann auf der Welt zu sein. Diesen laut hörbaren Gedanken versucht er in seinem Alltag allerdings zu verdrängen, indem er sich beschäftig hält. Etwa indem er mit seinem Hund Manchee spricht, dem fanatischen Priester Aaron aus dem Weg geht, für seine Adoptivväter Cillian und Ben Aufgaben erledigt oder versucht Bürgermeister Prentiss zu beeindrucken und um dessen Anerkennung mit Prentiss‘ Sohn konkurriert. Das alles ändert sich jedoch, als Todd unweit der Siedlung ein bruchgelandetes Raumschiff entdeckt und auch dessen einzige Überlebende: Viola. Sie ist die erste Frau, der Todd begegnet und zudem die erste Person, deren Gedanken er nicht sehen und hören kann.
Das Gendercide-Szenario
Originaltitel | Chaos Walking |
Jahr | 2021 |
Land | USA |
Genre | Science-Fiction, Dystopie |
Regie | Doug Liman |
Cast | Todd Hewitt: Tom Holland Viola: Daisy Ridley Bürgermeister Prentiss: Mads Mikkelsen Ben: Demián Bichir Aaron: David Oyelowo Davy Prentiss, Jr.: Nick Jonas Cillian: Kurt Sutter Hildy: Cynthia Erivo |
Laufzeit | 109 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 14. Oktober 2021 |
Chaos Walking bedient das in der Science-Fiction beliebte Szenario des Gendercide (zugleich ein Oberbegriff für realweltliche Morde basierend auf Geschlecht), in dem ein biologisches Geschlecht der Menschheit durch ein Ereignis (wie Krieg oder Virus) nahezu ausgelöscht wird. Meist gibt es einige wenige Überlebende, noch öfter betrifft die Auslöschung das männliche Geschlecht mit oft nur einem Überlebenden (jüngst bspw. die Disney+-Serie Y: The Last Man aus dem Jahr 2021). Das Szenario erlaubt es damit, anhand dem Ansatzpunkt Gender unterschiedliche Gesellschaftsentwicklungen und -formen zu imaginieren, wie was passiert, wenn eine derartige Lücke entsteht oder etwa die Loslösung von dem Gedanken, dass Geschlechterrollen etwas mit dem biologischen Geschlecht zu tun hätten. Die häufige Konstellation der ausgelöschten Mannsleute ergibt dabei insoweit Sinn, da eh seit diversen Jahrhunderten patriarchale (männlich bestimmte) Verhältnisse existieren und zahlreiche Entwürfe von Gesellschaften, in denen Frauen bis zur Quasi-Nichtexistenz ausgegrenzt und/oder unterdrückt werden, zu beobachten oder in den Geschichtsbüchern nachlesbar sind. Bei einer von Frauen bestimmten matriarchalen Welt muss hingegen die fiktionale Imagination einsetzen. Wie dies letztlich gestaltet wird, kann dementsprechend variieren und ob dieser Gesellschaftsentwurf einer Welt der Frauen zur Utopie, Dystopie, einem Irgendwie-Dasselbe, einer Klischee-Ansammlung oder einer ausgedehnten, pubertären Sexfantasie gerät, verrät wohl am meisten über die Schöpfenden und ihr eigenes Geschlechterbild.
… aber reden wir nicht darüber
In Chaos Walking tritt der sehr viel seltenere Fall ein, in welchem mit Viola eine überlebende Frau in einer männlichen Gesellschaft bruchlandet. Hinzu kommt der Schachzug des Lärms, bei dem biologische Männer auf New World nur mit großer Disziplin und Selbstkontrolle (wie Bürgermeister Prentiss sie sich angeeignet hat) ihre Gedanken für sich behalten können, während Frauen von diesem Phänomen nicht betroffen sind. Letztlich entsteht jedoch der Eindruck, dass der Film mit dem Gendercide-Szenario eher wenig macht, beziehungsweise bemüht ist, einem Diskurs zu dem Thema weitläufig aus dem Weg zu gehen. Wohl auch im Bestreben potenzielle Zuschauende nicht abzuschrecken, versucht der Film also das Szenario als Ausgangslage für eine unterhaltsame Abenteuergeschichte und etwas harmlosen Humor zu verwenden, anstatt eine Form von kritischem Statement abzugeben. Selbst um Harmlosigkeit bemüht, scheint klar, dass man sich als einzige Frau unter Männern kaum wohlfühlt. Schon die Gedanken des an Liebenswürdigkeit kaum zu überbietenden Todd Hewitt entwickeln mit seiner intensiven Fokussierung auf Viola, was sie wohl über ihn denkt, wie hübsch sie ist und bildlichen Vorstellungen, wie sie ihn küsst, eine Aufdringlichkeit, die eher weniger liebenswürdig ist. Allgemeinhin oft ausgesprochene Klage ist zudem, dass Männer beim vermeintlich undurchschaubaren weiblichen Denken so schon vor unlösbare Aufgaben gestellt seien. Erhöht man diese Frustration noch um den Gedanken, dass dagegen das männliche Innenleben wie ein offenes Buch zur Schau steht, kann die Geschichtsschreibung vom Bürgermeister – der gerne Siedlungen nach sich selbst benennt und bei dem Gewalt eine schnelle Lösung ist –, dass die Frauen auf New World durch die Spackle ausgelöscht wurden, schnell in Zweifel gezogen werden.
Viel Lärm um nichts
Beurteilt man Chaos Walking nun nach seinem Bestreben zu unterhalten, fällt das Ergebnis eher mäßig aus. Nachdem Viola offenbart, dass sie zur Vorhut einer langerwarteten zweiten Welle an Siedlern gehört und Bürgermeister Prentiss seine Maske fallen lässt, hilft Todd Viola dabei, eine Möglichkeit zu finden, das nahende Generationenschiff vor den Verhältnissen auf New World zu warnen. Den Großteil des Films bildet somit eine wenig Popcornkino-Spektakel bietenden Flucht von Viola und Todd vor ihren Prentisstown-Verfolgern durch die grünnasse Wildnis von New World. Dabei kommt es zu einigen Offenbarungen, die genauso wenig überraschen wie damit verbundene Figurenentwicklungen. Der mit Stars wie Tom Holland (Spider-Man: Homecoming), Daisy Ridley (Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers) und Mads Mikkelsen (James Bond 007: Casino Royale) besetzte Cast liefert dabei eine solide Leistung ab, die jedoch an keiner Stelle beeindruckt. Auch sonst sucht man, abgesehen von der Idee des Lärms, ein wirklich bemerkenswertes Herausstellungsmerkmal. Neben der ausgeschlagenen Chance, das Gendercide-Szenario zu etwas Substanziellen zu nutzen, würde ansonsten die Kolonialsituation auf einer außerirdischen Welt einige Möglichkeiten bieten, doch auch hier kommt es nur zu einigen Andeutungen und einer kurzen Begegnung mit den Spackeles, die sich erneut wie eine ausgelassene Gelegenheit anfühlt. Letztlich bleibt somit wenig mehr als ein ganz unterhaltsamer Film, bei dem man aber bezüglich der Handlung nicht allzu intensiv nachdenken sollte, wenn man nicht schnell in ein paar Logiklöcher hineinfallen will.
Fazit
Chaos Walking dauert 109 Minuten und die meisten davon fühlen sich wie verpasste Gelegenheiten an. Das hier umgesetzte Gendercide-Szenario hätte sich beispielsweise durchaus gut für einen kritischen Kommentar zu Problemen mit von Männern ausgehendem Femizid und den gesellschaftlichen Rechtfertigungsstrategien in unserer Gegenwart geeignet, doch wenn auch im Ansatz vorhanden, bleibt diese Kritik zahnlos. Stattdessen scheint der Film mehr bemüht, um jedes Fettnäpfchen möglichst weitläufig herumzuschleichen und schafft es dann doch, in andere mit unbeschwerter Naivität hineinzustampfen: Sowohl einige Szenen unnötiger Gewalt gegen Tiere oder das Töten der einzigen queeren Figuren fallen beim Anschauen schnell negativ auf. Nun muss nicht jeder Film einen gesellschaftskritischen Auftrag enthalten, doch auch die Gelegenheit auf unterhaltsames Popcornkino wird eher mäßig genutzt. Mit Logiklöchern, ausbleibendem Spektakel und einer immer wieder selbstauferlegten Entschleunigung der Handlung, schafft es der Film, sich an allen möglichen Fronten gekonnt selbst ein Bein zu stellen. Chaos Walking ist kein schlechter Streifen, aber mehr als ein Ganz-okay schafft er auch nicht. Man verschwendet seine Zeit nicht, wenn man ihn sich anschaut, aber er ist wohl für Zeitperioden am geeignetsten, in denen man wirklich nichts Besseres zu tun hat.
© Studiocanal
Veröffentlichung: 14. Oktober 2021