Lucy
Wie man sich allgemein so erzählt, benutzt der Mensch nur 10% seiner Gehirnkapazität. Das ist zwar nur ein Mythos, aber basierend auf diesem entwirft Kultregisseur Luc Besson (Das Fünfte Element) 2014 mit seinem Film Lucy trotzdem ein Was-wäre-wenn-Szenario, in dem seine Titelheldin durch eine unfreiwillige Überdosis von zehnprozentiger Normalsterblichen zur hundertprozentigen Quasigottheit evolutioniert.
Nach einer durchzechten Nacht in Taipeh möchte man irgendwann eigentlich doch ganz gerne ins Bett. Lucys Freund, ein Kurier namens Richard mit dem sie gerade mal eine Woche lang zusammen ist, versucht die Studentin stattdessen davon zu überzeugen, für ihn einen Aktenkoffer bei einem Klienten abzuliefern, der aktuell nicht allzu gut auf ihn zu sprechen ist. Lucy (Scarlett Johansson; Black Widow) lässt sich letztlich eher unfreiwillig dazu breitschlagen, doch die Situation gerät danach schnell außer Kontrolle. Richard wird kurzerhand erschossen, der Klient stellt sich als koreanischer Unterweltboss heraus und der Inhalt des Aktenkoffers als eine neue experimentelle Droge. Die komplett verängstigte Lucy wird von Bandenchef Mr. Jang (Choi Min-sik; Oldboy) dann auch noch kurzerhand dazu zwangsverpflichtet, als Drogenkurier das in ihren Bauch eingenähte Rauschmittel in den Westen zu schmuggeln. Als wäre der Tag nicht schon lang genug, wird Lucy zudem auf dem Weg zum Flughafen von einer rivalisierenden Bande entführt. Da bei den Verbrechern die Gewalt sehr locker sitzt, wird das Drogenpaket in Lucys Leib beschädigt und der Inhalt gerät nun in ihren Blutkreislauf. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dieser Droge um eine synthetisierte Version von CPH4, einer chemischen Verbindung, die dem menschlichen Fötus im Mutterleib eigentlich die Initialzündung zum Wachstum gibt. In kleinen Mengen ein Rausch, in den Maßen, die Lucy nun aufnimmt, der Anfang einer alle menschlichen Beschränkungen transzendierenden Entwicklung.
Etwas Fact Checking in Sachen Hirn-Power-Level
Originaltitel | Lucy |
Jahr | 2014 |
Land | Frankreich |
Genre | Science-Fiction, Thriller |
Regie | Luc Besson |
Cast | Lucy: Scarlett Johansson Professor Norman: Morgan Freeman Mr. Jang: Choi Min-sik Pierre Del Rio: Amr Waked |
Laufzeit | 89 Minuten |
FSK | |
Im Handel erhältlich |
Schnitt zu Professor Norman, der in einer Vorlesung darauf eingeht, wie der Mensch nur 10% seiner Hirnkapazität nutzt und fortan seine Theorien ausbreitet, was der Mensch leisten könnte, wenn er sein volles Potenzial ausschöpft. Lucy macht durch die unfreiwillige Überdosis eben diese Entwicklung synchron dazu durch. Der dabei aufgegriffene 10%-Mythos ist wohl eine der hartnäckigsten und bekanntesten Urban Myths, aber letztlich eben nur das: ein Mythos, der wissenschaftlich widerlegt ist. Zwar sind zu jedem Zeitpunkt irgendwo zwischen einem und 16 Prozent des Gehirns (bzw. deren Nervenzellen) aktiv, also man bewegt sich tendenziell in diesem 10% Bereich, wobei aber jeder Bereich des Gehirns über kurz oder lang aktiv wird. Oder anders ausgedrückt: Jeder Bereich im Gehirn wird für irgendwas benutzt. Ungenutzte Gehirnbereiche, in denen mirakulöse Sinneswahrnehmungen oder Fähigkeiten wie beispielsweise Telepathie schlummern, gibt es somit nicht und wären auch irgendwie Mumpitz. Ungenutzte Hirnmasse hätte unser Körper in seiner fortlaufenden Evolution wohl schon längst eliminiert, denn allein schon das Gehirn als Organ am Laufen zu halten, nimmt ziemlich viel unseres körperinternen Energiehaushalts in Anspruch – Neuronen abzufeuern noch mehr. Die Mengen an Energie, die es benötigen würde, wirklich alle Neuronen gleichzeitig abzufeuern, also das Gehirn zu 100% auszulasten, können wir gar nicht fortlaufend aufnehmen und umsetzen. Auch würde es gar keinen Anlass dazu geben, alle Bereiche gleichzeitig zu benutzen. Die Situation oder Kombination an Tätigkeiten, die man zugleich multitasken müsste, um alle Hirnabteilungen zu beschäftigen, scheint sehr viel schwieriger vorstellbar, als all die besonderen Fähigkeiten, die sich Erzähler wie Luc Besson oder findige Autoren für pseudowissenschaftliche Transendenz-Literatur zusammenfantasieren.
Filmisches Gedankenexperiment
Wenn dann im Film Morgan Freemans (Die Verurteilten) Figur Professor Norman an Universitäten mit dieser falschen Prämisse Vorlesungen über seine Theorien hält und für voll genommen wird, kann das zum Schmunzeln anregen. Genauso wie man für die Dauer eines Films aber so tun kann, als wären Vampire oder Warpgeschwindigkeit möglich, lässt sich auch mit dem 10%-Mythos verfahren. Aus dieser Annahme heraus imaginiert der Film anhand von Lucys Entwicklung einige interessante Gedankenspiele. Was wenn man beispielsweise ein komplettes Bewusstsein und Kontrolle über den eigenen Körper entwickeln könnte, über Prozesse, die sonst nur unterbewusst und automatisch ablaufen – wieviel Nahrung man benötigt, wieviel Blut man verlieren kann, welche Emotionen man spürt oder ob man Adrenalin ausschüttet oder nicht? Was wäre, wenn man einen kompletten Zugriff und Kontrolle über die eigenen Erinnerungen hat, selektiert entscheiden kann, was diesen zugefügt wird, auf Erinnerungen aus dem Mutterleib oder genetische Erinnerungen der Zellen zugreifen kann? Was wenn man sogar die Kommunikation zwischen einzelnen Zellen, deren chemischen Energieflüsse bewusst wahrnehmen und kontrollieren kann und das nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen Menschen? Der Film entwickelt und zeigt diese Gedankenspiele auf kreative Weise.
Nicht durchgehend spannend, aber immerhin interessant
Dies geschieht durch teilweise sehr geschickte Schnitte, zum Beispiel zu Dokumaterial aus dem Tierreich, in denen das menschliche Verhalten, mit dem von Tieren in Kontext gebracht wird oder mit Fähigkeiten von diesen, welche der Mensch nicht besitzt, aber die biologisch möglich wären. Damit werden Assoziationen geweckt, welche die Entwicklung von Lucy nachzeichnen, vom Instinktbestimmten Menschen hin zu etwas, das mehr ist. Gestützt wird das durch Kommentare von Professor Norman und auch Lucy, die ihre bewusste Wahrnehmung von sich selbst zunehmend analytisch kommuniziert. Das Erreichen höherer Bewusstseinsebenen geht dabei aber auch mit einer Abkopplung von den unterbewussten Emotionen einher, die unser Verhalten bestimmen, sodass Lucys rein von Logik gelenktes Verhalten zunehmend roboterhaft wird und sie mehr ein wandelnder, biologischer Supercomputer wird, der ihrer Programmierung folgt. Dem wird mit dem Verbrecherboss Jang als Antagonist der emotionsgeleitete Instinktmensch entgegengestellt, einzig getrieben von seinem Drang zur Rache und selbst an oberster Stelle der Nahrungskette zu stehen. Das alles schafft einen unterhaltsamen und interessanten Film, aber auch einen, der manchmal distanziert und spannungsraubend seine Absichten zeigt. Actionszenen sind zwar vorhanden, aber ein temporeicher Streifen – ähnlich den typischen Superheldenfilmen, in denen ja auch auftretende übermenschliche Fähigkeiten erforscht werden – ist Lucy eher nicht.
Fazit
Nachdem ich Lucy seinerzeit das erste Mal gesehen hatte, war ich etwas enttäuscht, was aber auch daran lag, dass ich durch den Trailer eine falsche Erwartungshaltung hatte. Die ging eher in Richtung spannend mitreißender Actionstreifen, was aber hier nur bedingt bedient wird. Nachdem ich diese Erwartungen jetzt beiseitegelassen habe, hat mir der Film bedeutend besser gefallen. Zwar empfinde ich das Ende weiterhin als eher befremdlich abgehoben, aber ich mag besonders, was hier in Sachen Schnitt und Bildsprache gemacht wird.
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