Midsommar
Nur wenigen Regisseuren gelingt mit ihrem Debütfilm ein solcher Volltreffer wie Ari Aster mit Hereditary – Das Vermächtnis. Dass es sich nicht um einen Glückstreffer handelt, beweist sein zweiter Streich Midsommar, welcher erneut alles andere als leichte Kost ist. Ein Horrorfilm (Mystery-Drama wäre der treffendere Begriff) der ganz anderen Art: Fast vollständig im Hellen stattfindend, von Ungewissheit zehrend und einem Fiebertraum gleichkommend. Ein Tritt in die Magengrube und von erstaunlich detaillierten Todesszenen begleitet, entfesselt Midsommar eine erzählerische Dichte, wie man sie in nur wenigen Filmen findet. Dennoch kein Film für Freunde gängiger Horror-Mechanismen.
Dani (Florence Pugh, Lady Macbeth) ist psychisch instabil. Nachdem ihre gesamte Familie auf einen Schlag ausgelöscht wurde, versucht sie sich ins Leben zurückzukämpfen. Halt gibt ihr vor allem die Beziehung zu Christian (Jack Reynor, Kin), einem Doktoranden der Anthropologie. Beide wissen, dass ihre Beziehung unter Danis Traumata leidet. Eigentlich wollte Christian mit seinen Freunden Josh (William Jackson Harper, The Good Place) und Mark (Will Poulter, The Revenant – Der Rückkehrer) auf Einladung des Austauschsstudenten Pelle (Vilhelm Blomgren) nach Schweden reisen. Schließlich überredet Christian seine Freunde dazu, auch Dani mitzunehmen. Bereits nach der Ankunft der abgeschiedenen Kommune Hårga sorgt der Konsum psychedelischer Substanzen für eine veränderte Wahrnehmung innerhalb der Gruppe. Und dann sind da noch die dauerhaft gutgelaunten Mitglieder der Kommune, die heidnischen Bräuchen folgen. Trotz der omnipräsenten Herzlichkeit braut sich ein Sturm über der Gruppe zusammen, von dem niemand etwas ahnt …
Der wohl idyllischste Horrorfilm aller Zeiten
Originaltitel | Midsommar |
Jahr | 2019 |
Land | USA, Schweden |
Genre | Mystery, Drama, Horror |
Regisseur | Ari Aster |
Cast | Dani: Florence Pugh Christian: Jack Reynor Josh: Will Poulter Mark: William Jackson Harper Pelle: Vilhelm Blomgren |
Laufzeit | 147 Minuten |
FSK |
Midsommar lebt in allererster Linie davon, einen mehr oder minder unbetretenen Weg zu beschreiten. Ganz ohne Spukhäuser, blutrünstige Hinterwäldler oder gewitzte Serienkiller geht es um ein noch recht unbeschriebenes Blatt: skandinavischer Folk-Horror. Kern der Handlung ist Midsommar, die schwedische Bezeichnung für das Mittsommerfest. Dieser Anlass gibt die Handlung vor, deren Grundmotiv (wie auch in Hereditary) die Existenz des eigenen Seins darstellt. Orientierungslosigkeit, Trauma, Verlustängste sind ab bereits ab dem Beginn prägende Instinkte, welche hier angesprochen werden. Gänzlich im Kontrast zu jenen düsteren Emotionen stehen dagegen die sonnengefluteten Wiesen der Hårga. Tanzende und lachende Menschen im Einklang mit der Natur. Gemeinsam wird gesungen, gegessen, gelacht. Hier beginnt der Folk Horror, welcher sich durch die geographische Abgeschiedenheit und der Isolation der Gemeinde auszeichnet. Moralische und religiöse Normen weit entfernt von den unsrigen. Man muss kein Soziologe sein, um festzuhalten, dass auseinanderdriftende Normen für einen Konflikt sorgen.
Ein surrealer Strudel, der an die Nieren geht
Der schlimmste Horror ist jener, welcher sich auf leisen Sohlen heranschleicht. So verhält es sich auch mit Midsommar. Saftige Wiesen, blauer Himmel. Wer vermutet hier schon Schlimmeres? Doch im Hintergrund geschehen Dinge, welche die Gruppe noch gar nicht greifen kann. Denn für die Jungen ist dies zunächst einmal reiner Forschungsurlaub, während die bereits vom Schicksal gebeutelte Dani viel sensitiver auf die Dinge um sie herum reagiert. Nun ist Midsommar viel komplexer, als einfach nur ein Horrorfilm über eine Gruppe auf unbekanntem Terrain zu sein. Auf psychologischer Ebene steckt jede Figur voller Sehnsüchte, welche sie in irgendeiner Weise bei den Hårga ein Stück weit in Erfüllung gehen sieht. Dani findet familiäre Werte, welche in ihrem Leben nicht mehr existieren. Christians und Joshs Wissbegier wird auf Sachebene völlig befriedigt und Mark genießt das Spiel mit dem anderen Geschlecht. Dadurch verschwimmt die Perspektive der Figuren endgültig – und auch der Blick füreinander.
Zermatschte Schädel, sexuelle Riten und andere Albernheiten
Im direkten Gegensatz zu jeglicher Komplexität steht die Plakativität, mit der Aster aufdreht. Er sorgt für deftige Exploitation-Momente und geradezu alberne Sexualpraktiken, welche er konsequent durchzieht ohne auch nur einmal einen Rückzieher zu machen. Es ist das Wechselbad zwischen völliger und völlig fehlender Subtilität, welches Midsommar zu einer wahren Gruselmär macht. Das ist auch die Sprache der Bildästhetik, die für Momente der Unbarmherzigkeit sorgt. Die Rede ist hier nicht von Gewalt, sondern Explizität. Ob nun Innereien oder Geschlechtsteile, Scham kennt die Kamera nicht. Pawel Pogorzelski fing bereits in Hereditary stilvolle Bilder des Puppenhauses ein und sorgt auch hier dafür, dass die weißen Trachten, die heimeligen Bauten und das idyllische Szenenbild voll zum Tragen kommen.
Ein Kritiker-, aber kein Publikumsliebling
Bereits Hereditary überraschte mit seiner individuellen Herangehensweise an die Dinge. Midsommar tut es diesem gleich, setzt allerdings noch stärker auf die eigene Wirkung. Horrortypische Mechanismen werden außer Acht gelassen. Jump-Scares sind dem Regisseur zu einfallslos und Thrillerpotenzial bleibt ruhen. Es geht nicht darum, die Situation zu erklären und schnell das Weite zu suchen. Aster sucht die Auseinandersetzung mit dem Stoff und lässt dabei eine Handlungsunfähigkeit auf das Publikum los, mit der die wenigsten Zuschauer umgehen können werden. Fans klasischer Popcorn-Unterhaltung wie der Saw– oder Halloween-Reihe werden ihre Schwierigkeiten haben, den inhaltlichen wie künstlerischen Anspruch Midsommars wertschätzen zu können. Aster setzt auf Wirkung, nicht auf Nervenkitzel.
Fazit
Midsommar anzusehen, ist eine gleichermaßen überwältigende wie unangenehme Erfahrung. Trotz einer eigentlich simplen Idee wird die Handlung durch Komplexität und dysfunktionale Beziehungen aufgewertet. Umso erschreckender für einen Deutschen ist die geographische Nähe, welche sich auftut. Anders als unkontaktierte indiogene Völker sind die Hårga quasi um die Ecke angesiedelt und obendrein auch in ihrer Ethnizität nicht weit entfernt. Ein finsteres Märchen ohne richtigen Bösewicht, ein unwirkliches Ereignis mit tiefgreifenden Wurzeln und eine moralische Perversion. Eine derart düstere Geschichte bei gleißendem Tageslicht zu erzählen, gelingt nur den Wenigsten. Inszenatorisch wird hier der Vogel abgeschossen. Ari Aster demonstriert mit seinem zweiten Film erneut, weshalb er zu den vielversprechendsten Regisseuren des Jahrzehnts zählt.
© Weltkino Filmverleih