No Looking Back – Ohne Rücksicht auf Verluste
Sein erster Film Why Don’t You Just Die! tourte erfolgreich über die Genre-Festivals. Kirill Sokolov zeigte mit seinem Langfilm-Debüt sein Gespür für das richtige Timing und das Entfachen des richtigen Funken, um seine Figuren loslegen zu lassen. Dabei packt er nach eigener Aussage am liebsten Konfliktstoff an: Gewalt, Korruption und Machtmissbrauch nennt der Russe als Motivgeber für sein kreatives Schaffen. Mit No Looking Back schuf er einen beeindruckenden Zweitfilm, in dem er sich mit allem treu blieb. Auf den Fantasy Filmfest Nights 2022 feierte der Film seine Premiere, ehe er am 13. Mai 2022 in der Pierrot LeFour Uncut-Reihe erschien.
Olga (Viktoriya Korotkova) hockt nach einem Gewaltausbruch im Knast. Ihr Verhängnis: Im Affekt hat sie ihrem gewalttätigen Freund Oleg (Aleksandr Yatsenko) ein Auge ausgestochen. Ihre Tochter Masha (Sofya Krugova) wird derweil von der launischen Großmutter Vera (Anna Mikhalkova) betreut. Kaum wird Olga nach vier Jahren Haft und Prügel am letzten Tag entlassen, bricht sie zur Familie auf, um ihre zehnjährige Tochter aus der Obhut der Oma zu befreien. Doch die will das Kind nicht ohne weiteres herausrücken und es beginnt der Kampf einer dysfunktionalen Familie, der sich über mehrere Kilometer erstreckt …
Qualitäten beibehalten
Originaltitel | Otorvi i vybros |
Jahr | 2021 |
Land | Russland |
Genre | Thriller, Komödie |
Regie | Kirill Sokolov |
Cast | Olga: Viktoriya Korotkova Masha: Sofya Krugova Vera: Anna Mikhalkova Oleg: Aleksandr Yatsenko |
Laufzeit | 98 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 13. Mai 2022 |
Why Don’t You Just Die! gehört zu den effektivsten Kammerspielen der 2010er und gilt noch immer als Geheimtipp. Schließlich genießen russische Produktionen hierzulande weiterhin ein Nischendasein. Für die Kulisse von No Looking Back wechselte Sokolov die Wohnung gegen den Wald. Genauer gesagt spielt sich die Handlung seines Films draußen ab: Wald, Wiese, Straße. Vor allem trist und menschenleer. In etwa so, wie man sich das graue Russland ausmalt. Das ist aber auch der einzige wirkliche Wechsel, denn sonst behält er all seine zahlreichen Qualitäten bei: Ein sensationelles Gespür für den richtigen Moment, bitterböse komödiantische Einfälle, völlig unerwartete Wendungen und Figuren, die zu allem bereit sind! Sie alle haben eines gemeinsam: eine kurze Zündschnur. Es wird immer der einfachste Auslöser gefunden, um ihre Wut zu entflammen. Allzu intelligent oder reflektiert ist niemand. Das alles geschieht in einem irrsinnigen Tempo! Gewohnt rabenschwarz fackelt Sokolov eine Gewaltorgie ab, während die Tonalität immer humorvoll bleibt. Das ist ohnehin ein kleiner Kunstgriff: Auch wenn die Dysfunktionalität der Familie im tristen Russland im Vordergrund steht, gibt sich No Looking Back äußerst farbenfroh mit satten Primärfarben.
Cartoonhafte Eskalation
Obwohl seine Figuren allesamt ziemlich cartoonhaft in ihrer überdrehten Darstellung und dem blinden Aktionismus geprägten Handeln gehalten sind, ist No Looking Back keine seelenlose Slapstick-Eruption. Das ist deshalb wichtig anzumerken, da Sokolov ein Regisseur ist, dem es nicht darum geht, einfach nur sein Publikum zum Lachen zu bringen. Durch seine Charaktere strömt viel Humanität und mit der Zeit wird erkenntlich, dass die vier Hauptfiguren tragische Versager sind, wenn es darum geht, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen. Hinter dem Roadmovie steckt die Frage, wer wir sind und was wir für unsere Kinder darstellen wollen. Und vor allem: Was, wenn Kinder erkennen, dass auch Erwachsene voller Fehler sind? Vorgelebte Rollenmodelle werden hinterfragt.
Auge um Auge
Erzählerisch bediente sich Sokolov am Western-Genre, in dem seine Protagonist:innen Auge um Auge, Zahn um Zahn kämpfen. Es gibt nichts zu verlieren. Stimmungstechnisch vergleichbar ist die Erzählung vage mit Quentin Tarantinos Kill Bill. Es ist schwer auszumachen, wer am überzeugendsten aus dem Cast ist. Denn die Rollen verlangen allen Charakteren eine Menge ab, insbesondere physisch. Zwischen all den Prügeleien, Verfolgungsjagden und Schießereien sticht am Ende aber doch am meisten Sofya Krugova hervor, deren zehnjährige Masha in einigen Teilen weitaus reifer als ihre Mutter ist. Zwar sind die Fragen, die sie stellt, stark aus Erwachsenenperspektive geschrieben und damit nicht glaubhaft, aber Masha überzeugt als gewiefte Figur, die Situationen korrekt zu analysieren weiß. Beobachtungen und Interpretationen des sozialen Gefüges machen mit genug Abstand zur Handlung Spaß und lassen erkennen, dass ganze Teufelskreise von Generation zu Generation weitergereicht werden.
Fazit
No Looking Back ist rasant geschrieben und inszeniert. Der Film lebt von seinen hyperaktiven Charakteren und ihren Schicksalen sowie dem genialen Schnitt. Zwar ist die Handlung nicht ganz so pointiert wie Why Don’t You Just Die!, was aber auch der Wahl des Roadmovies geschuldet ist, wodurch vor allem stetige Ortswechsel mitspielen. Die Energie vor und hinter der Kamera ist jedenfalls kaum zu bändigen. Leider fehlen die großen erzählerischen Momente, die die Handlung abrunden würden. Somit bleibt es bei einer Karikatur der russischen Gesellschaft. Keine runde Geschichte, aber dennoch uneingeschränkt unterhaltsam und empfehlenswert.
© Pierrot LeFou
Veröffentlichung: 13. Mai 2022