Parasite

In seinem Science-Fiction-Reißer Snowpiercer, welcher in einer schneebedeckten Dystopie spielt, trennte Regisseur Bong Joon-ho die Menschen nach sozialen Klassen in Zugabteilen auf. Für Parasite zieht es ihn zurück ans Land, genauer gesagt nach Seoul. Dort klafft die Schere zwischen Arm und Reich besonders weit auseinander und so entwickeln sich völlig unterschiedliche Lebensstrategien. Das mag ganz platt nach einem Sozialdrama klingen, doch davon ist der Titel weit entfernt. Parasite lässt sich keinem Genre so recht zuordnen und das hat einen Grund: Bong Joon-ho schert sich nicht um Klasseneinteilung, außer bei den Menschen in seinem Film. Die Goldene Palme in Cannes war erst der Anfang. 2020 soll der Film bei den Oscars in der Kategorie “Bester internationaler Film” abräumen. Bei Höchstpunktzahlen auf allen wichtigen Portalen und einer Wertung von 99% auf Rotten Tomatoes kann da auch nicht mehr viel schiefgehen, oder?

 

Seoul: Familie Kim lebt in einer Kellerwohnung auf engstem Raume. Die Fenster sind so hoch, dass vom Außenleben nicht viel zu erkennen ist. WhatsApp ist ihnen ein Heiligtum, denn dadurch haben sie Anschluss an die Welt da draußen. Doch dummerweise hat genau jetzt die Nachbarin ihr WLAN, welches bislang unauffällig angezapft werden konnte, mit einem neuen Passwort ausgestattet. Ein sicheres Einkommen hat keines der Familienmitglieder und mit dem Zusammenfalten von Pizzakartons lässt sich auch nur geringfügig Geld verdienen. Eine Wendung tritt ein, als Sohnemann Ki-woo (Choi Woo-shik) von einem Freund als Nachhilfelehrer für die Tochter des wohlhabenden Mr. Park (Lee Sun-kyun) empfohlen wird. Eigentlich besitzt er dafür gar keine Qualifikationen, doch für die reiche Familie reicht ein gefälschtes Schriftstück bereits aus. Damit bekommt Ki-woo Zugang zu einer Welt, die mehr als nur freies WLAN bietet. Es gelingt ihm, auch seine Schwester Ki-jung (Park So-dam) als Kunsttherapeutin “Jessica” einzuschleusen, die dem Sohn der Parks schnell ein Trauma diagnostiziert. Nun soll der nächste Schritt folgen: Das Hauspersonal soll mittels Intrigen aus dem Dienst der Parks heraus geekelt werden, um die beiden Plätze für Vater Kim Gi-taek (Song Kang-ho) und Mutter Chung-sook (Chang Hyae-jin) frei zu machen …

Was ist eigentlich ein Parasit?

Originaltitel Gisaengchung
Jahr 2019
Land Südkorea
Genre Tragikomödie
Regisseur Bong Joon Ho
Cast Kim Ki-taek: Song Kang-ho
Park Dong-ik: Lee Sun-kyun
Yeon-kyo: Jo Yeo-jeong
Chung-sook: Jang Hye-jin
Kim Ki-jung: Park So-dam
Kim Ki-woo: Choi Woo-shik
Park Da-hye: Jeong Ji-so
Park Da-song: Jung Hyun-joon
Gook Moon-gwang: Lee Jung-eun
Geun-se: Park Myung-hoon
Laufzeit 132 Minuten
FSK
Seit dem 5. März 2020 im Handel erhältlich

Der Filmtitel “Parasite” beschreibt die menschliche Fähigkeit, sich mittels Manipulation an andere Menschen zu hängen, um von deren Wohlstand zu zehren. Die Kims stehen stellvertretend für eine Familie, die vor dem Abgrund steht und für die Armut zu einem täglichen Überlebenskampf wird. Der Regisseur lebte selbst in solchen Verhältnissen und kennt deren Umstände sehr genau, was vor allem in Südkorea großen Eindruck erzeugte. Auf der Gegenseite stehen die Parks, deren sonnendurchflutetes Luxusdomizil viel zu viel Platz für eine vierköpfige Familie bietet. In diesem Kontext lässt sich der Titel spielend leicht auf den Kopf stellen: Sind die Parasiten nun diejenigen, die sich mit einfachen Tricks in das Leben der Betuchten einschleichen um diese auszusaugen? Oder ist die im Luxus lebende Familie ein Parasitennest, das sich völlig auf den Diensten, der Bemühungen sowie der Energie der Angestellten ausruht und diese bei Versagen einfach vor die Türe setzt? Bereits dieser Gedankengang verdeutlicht, wie viel gesellschaftskritischer Zündstoff in Parasite steckt. Denn das Abhängigkeitsverhältnis funktioniert in beide Richtungen.

Ausgefeilter Plot mit heftiger Wendung

Neben der Systemkritik will noch immer eine Geschichte erzählt werden. Diese fühlt sich nicht um das große Problem herum geschrieben an, sondern erweist sich als eine bis ins Detail durchdachte Zwickmühle, die von ihrem Wechselspiel lebt. Auf eine überdrehte Eskalation folgt ein ruhiger, fast intimer Moment. Das Doppelspiel der Unterschichtler fällt trotz Not und Elend unheimlich komisch aus. Bong Joon-ho, ebenfalls für das Drehbuch verantwortlich, besitzt das richtige Gespür, um situativ zu entscheiden, wann eine Szene die nötige Dramatik einnehmen und wann sie komisch sein darf. Jede seiner Entscheidungen fühlt sich richtig und so wohlüberlegt an, dass man gar nicht darüber nachdenken möchte, diese anzuzweifeln. Während der Film in seiner ersten Hälfte noch an einen Heist-Movie erinnert, wendet sich das Blatt in der zweiten Hälfte. Was dann kommt, ist nicht nur weit von Vorhersehbarkeit entfernt, sondern erhebt den Anspruch, die bisherige Geschichte völlig auf den Kopf zu stellen.

Aus europäischer Brille

Wie so häufig stellt sich die Frage aus Sicht eines Europäers bzw. aus deutscher Perspektive: Wie fremdländisch fühlt sich ein Film, der aber auf internationaler Ebene abräumt, eigentlich an? Benötigt man besonders viel Geduld und Zugang? Die Antwort darauf fällt erstaunlich leicht. Obwohl uns die eine oder andere Eigenheit (etwa die Bedeutung des Körpergeruchs) merkwürdig vorkommen könnte, bewegt sich die Inszenierung auf unheimlich vertrautem Terrain. Bong Joon-ho drehte mit Snowpiercer, Okja und The Host zwar Filme, die allesamt etwas Exotisches besitzen, jedoch unserem Filmverständnis entsprechen. Der Blickwinkel auf das Designerhaus der Parks, den wir hier einnehmen, wirkt weniger verstörend als Bilder durchfluteter Slums. Obwohl Parasite laut Regisseur ausdrücklich für ein südkoreanisches Publikum gedreht wurde, könnte er auch in jedem anderen Land spielen. Übergeordnet ist der menschliche Aspekt: Die Figuren passen sich in ihrem Verhalten und ihren Gepflogenheiten immer der Umwelt an. Kameramann Kyung-pyo Hong (Burning) fängt beide Welten adäquat ein.

Tragikomödie, Gesellschaftssatire, Thriller, Mystery, Drama?

Die spannendste Frage bleibt: Was ist das für ein Film? Zuschauer für den Gang ins Kino zu überreden, könnte schwierig werden. Denn wie man Parasite auch dreht und wendet, lässt sich keine eindeutige Genre-Einteilung finden. In seiner DNA ist Parasite klassisches Autorenkino, welches als Genrefilm präsentiert wird. Gesellschaftskritik ist zur Genüge enthalten, aber die Handlung liefert zu viele spannende und antreibende Momente, um als einfaches Sozialdrama abgestempelt zu werden. Für eine Tragikomödie geht es mitunter ziemlich geheimnisvoll und temporeich zu und für eine Komödie ist der Verlauf der Geschichte viel zu bitter. Deshalb sollte man sich einfach auf den Film einlassen und alle möglichen Schubladenerwartungen abschütteln. Horrorsequenzen und romantisch-idyllische Leichtigkeit gehen Hand in Hand. Selten funktionierte genreübergreifendes Erzählkino derart schlüssig und leichtgängig.

Fazit

Parasite darf sich zu Recht Meisterwerk nennen. Eine einmalige Produktion, die Raum für zahlreiche Entdeckungen, Facetten und Interpretationen bietet. Die größte Stärke ist neben der Inszenierung aber das Wohlwollen des Regisseurs gegenüber seinen eigenen Figuren, denn er behandelt sie trotz allem mit Würde. Ganz unabhängig der Umstände bleibt ein Fingerpointing aus. Beide Familien sind leicht ins Herz zu schließen und selbst die reichen Parks, denen man auch einfach einen Stempel als Snob hätte aufdrücken können, zeigen sich in ungestörten Momenten sehr nahbar und menschlich. Dass das Finale derart explosiv ausfällt, schockt zunächst – begeistert dann allerdings auf einer anderen Ebene ebenso konsequent wie der Rest des Films. Brillant geschrieben, meisterhaft inszeniert.

Zweite Meinung

Vorweg gesagt: Ich habe das Kino ohne Vorkenntnisse besucht, also keine Artikel gelesen oder Trailer angeschaut. Und ich muss sagen, das war genau das Richtige, denn so konnte ich Parasite ungefiltert wirken lassen. Parasite ist ein genreübergreifender Film, der funktioniert. So sah es für mich lange danach aus, als wenn es sich nur um die unterhaltsame Gaunerei einer armen Familie handelte, die versuchte, ihren Lebensstandard zu verbessern. Wobei ich zugeben muss, dass die kriminelle Energie, die da in aller Unschuld in das Projekt Arbeitsbeschaffung gesteckt wurde, doch ziemlich erheblich ist, allerdings auch ziemlich amüsant. Doch als die Stimmung dann mit dem erneuten Auftauchen der Haushälterin zu kippen beginnt, angedeutet schon vorher durch einen unerwarteten Ausbruch von Vater Kim Gi-taek bei der Erwähnung von Kakerlaken, schien die weitere Entwicklung unaufhaltsam in eine Abwärtsspirale hineinzusteuern. Wobei mögliche Szenarien, die sich anzubahnen schienen, von eher unerwarteten, aber immer passenden Ereignissen ersetzt wurden. Das blutige Finale finde ich überraschend konsequent, auch im Hinblick auf die eher stoische und ergeben Haltung Kim Gi-taeks, die bis zum Höhepunkt mit einer Ausnahme ununterbrochen bleibt. Es mag möglich sein, sich mit derartigen Lebensumständen zu arrangieren, wie Familie Kim sie zu ertragen hatte, aber es bleibt ein Leben auf einem Pulverfass. Die Vision Ki-woos am Ende des Films hatte für mich eine frappierende Ähnlichkeit mit Orwells 1984. Und doch blieb bis zum Schluss die Hoffnung, dass Träume möglich gemacht werden können, so unrealistisch sie auch sein mögen.

© Koch Films

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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