Prison 77 – Flucht in die Freiheit
Bei den Goya Awards 2023, den spanischen Oscars, konnte Prison 77 – Flucht in die Freiheit insgesamt fünf seiner 16 (!) Nominierungen in Preise umwandeln. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Gefängnisfilm spielt Ende der 1970er im spanischen Modelo-Gefängnis und hatte das Glück, an einem Originalschauplatz gedreht worden zu sein, wodurch ihm ein unvergleichlich authentisches Flair zu Gute kommt. Hierzulande auf den Fantasy Filmfest White Nights 2023 gestartet, erscheint die spanische Produktion am 27. April 2023 auch im hiesigen Handel, u.a. auf 4k-Blu-ray.
Francisco Franco, der bis 1975 amtierende Diktator Spaniens, ist tot. Die Insassen des Modelo-Gefängnisses in Barcelona sind von den gesellschaftlichen Umwälzungen der Folgejahre abgeschottet. Während sich außerhalb der Knastmauern alles verändert und eine Demokratie erblüht, herrschen drinnen weiterhin Willkür und Gewalt. Es gilt das Prinzip des Stärkeren. Das sind in aller Regel die Wärter, und wenn nicht diese, dann die Brutalsten aller Insassen. Manuel (Miguel Herrán, Haus des Geldes) sitzt hier ein und wartet auf einen Prozess, welchen es niemals geben wird. Dabei wird er Zeuge, wie immer wieder über Nacht Zellengenossen spurlos verschwinden. Das kann so nicht weitergehen und er beginnt, sich für die Rechte der Häftlinge stark zu machen. Doch hinter den unbarmherzigen Mauern ist es schwer, Gehör zu finden.
Verkrustete Strukturen, zu denen keine Demokratie vordringt
Originaltitel | Modelo 77 |
Jahr | 2022 |
Land | Spanien |
Genre | Drama |
Regie | Alberto Rodríguez |
Cast | Manuel: Miguel Herrán Pino: Javier Gutiérrez El Negro: Jesús Carroza El Marbella: Fernando Tejero Lucia: Catalina Sopelana Domingo: Javier Lago Andrés: Iñigo Aranburu |
Laufzeit | 125 Minuten |
FSK | |
Veröffentlichung: 27. April 2023 |
2014 setzte Regisseur Alberto Rodríguez mit seinem Film Marshland ein Ausrufezeichen. Ein drückender und langsam erzählter spanischer Krimi mit Raum für Figurenbeobachtungen, Zeitkolorit und in starker Optik, welche 2019 Christian Alvart zu dem deutschsprachigen Remake Freies Land inspirierte. Ähnlich ist auch Prison 77 angelagert: Erzählerisch tief in seiner Zeitepoche verhaftet und mit markanten Figurenzeichnungen versehen, nimmt sich Rodríguez vor allem viel Zeit für alle Entwicklungen. Sowohl hintern den Mauern als auch draußen, wo das Farbfernsehen die breite Bevölkerung erreicht. Inhaltlich ist genügend Platz für eine ganze Miniserie vorhanden und selbst als solche würde die Erzählung noch immer ein gutes Bild abgeben. Denn die Geschichte ist faszinierend genug, um sich von nahezu selbst zu erzählen. Der Fokus ist klar auf die zwischenmenschliche Interaktion gelegt, was Prison 77 auf angenehme Weise von anderen Gefängnisdramen und -thrillern unterscheidet, in denen es nur darum geht, die Härte des rauhen Alltags auf reißerische Weise zu schildern. Die Häftlinge organisieren sich in Gruppen und richten sich ihre Zellen ein. Manuels Zellengenosse Pino (Javier Gutiérrez, Dein Zuhause gehört mir) liebt zum Beispiel seine Science-Fiction-Romane. Als ihr dritter Zellengenosse einmal vor Traurigkeit nicht einschlafen kann, wird ihm vorgelesen. Es sind diese Momente, von denen man gar nicht genug kriegen kann. Aber natürlich sind wir noch immer im Gefängnis. Jeder Gewaltakt und jede menschliche Tragödie geschehen hier auf eine natürliche Weise, die uns mahnt, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit darstellt. Die psychische und physische Gewalt tut weh, ohne dass das inszenatorisch ausgeschlachtet wird. Viel Wissen um Politik und Zeitepoche wird nicht benötigt, um nachvollziehen zu können, wie sehr die Verhältnisse an die Nieren gehen.
Flucht oder politischer Aktivismus?
Visuell fällt die Produktion gleichermaßen hübsch wie trist aus. Es ist gelungen, die richtigen Bilder für die Traurigkeit des Alltags zu finden, und trotzdem befinden sich unter den Aufnahmen etliche Shots, die künstlerisch hängen bleiben. Etwa Manuel, der hintern den Gittern eines uhrenartig angelegten Fensters nach draußen blickt. Sonnenuntergänge werfen zumindest ein wenig das Licht der Hoffnung in die Zellen. Sieht man zum Abspann die realen Bilder aus dem Gefängnis, wirkt der Film sogar vergleichsweise harmlos, und der Eindruck der realen Verhältnisse wirkt noch lange nach. Miguel Herrán macht sich gut in der Hauptrolle von Manuel, der für das Publikum gleichzeitig auch zur Identifikationsfigur wird. Er bildet einen Kontrast zum zweiten Hauptcharakter Pino. Der eine jung und zum ersten Mal im Gefängnis, der andere abgebrüht, weil er schon sein ganzes Leben hinter Gittern verbracht hat. Durch den gemeinsamen Kampf entwickeln sie aber eine berührende Solidarität miteinander.
Fazit
Prison 77 – Flucht in die Freiheit erzählt sich auf faszinierende Weise von selbst. Der Stoff ist spannender, als jeder Drehbuchautor ihn sich hätte ausdenken können, und wird auf authentische Weise zur Schau getragen. Ein klasse gespieltes und stark besetztes Gefängnisdrama mit politischem Überbau, in dem es weniger um Gefängnisalltag geht, sondern höher angelegte Motive wie Systemwechsel, Altlasten, Demokratie und Freiheit.
© Plaion Pictures
Veröffentlichung: 27. April 2023