The Intruder
In Deutschland leidet jeder zehnte Erwachsene unter einem Tinnitus. Der Feind im Ohr hat viele Symptome: Manche Betroffenen werden von einem hohen Klingeln, Pfeifen oder Zischen geplagt, andere hören ein dumpfes Rauschen, Klopfen oder Summen. Die argentinische Regisseurin und Drehbuchautorin Natalia Meta (Muerte en Buenos Aires) versetzt das Publikum in ihrem Film The Intruder in die Psyche einer Frau, die sich selbst sucht. Das alles beginnt mit einem Störgeräusch im Ohr. Seine Weltpremiere feierte der Film auf der Berlinale 2020, im Juli ging es dann auf den Fantasy Filmfest Nights weiter. Die Verfilmung des Romans El mal menor des verstorbenen Schriftstellers C.E. Feilings versucht sich als verschachtelte Parabel, verliert aber den Sinn für das Wesentliche.
Inés (Èrica Rivas, Casados con Hijos) setzt ihre Stimme nicht nur zum Singen im Kirchenchor, sondern auch als Synchronsprecherin ein. Ihr aktuelles Projekt ist ein japanischer Slasher. Im Urlaub mit ihrem Freund Leopoldo (Daniel Hendler) stößt Inés an ihre Grenzen. Das zwanghafte Kontrollverhalten ihres Freundes nervt sie und irgendwann wünscht sie sich, dass er einfach still ist. Genau das ist er dann auch. Für immer. Auch Monate später leidet sie noch unter den Folgen des gemeinsamen Urlaubs. Darunter leidet auch ihre Arbeit: Im Chor kann sie ihre Stimme kaum halten, beim Synchronsprechen wird ihre Arbeit immer wieder von Geräuschen gestört. Gemeinsam mit dem Orgelstimmer Alberto (Nahuel Pérez Biscayart, 120 BPM) versucht sie herauszufinden, was mit ihr nicht stimmt.
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Originaltitel | El Profugo |
Jahr | 2020 |
Land | Argentinien |
Genre | Psycho-Drama |
Regie | Natalia Meta |
Cast | Inés: Erica Rivas Leopoldo: Daniel Hendler Alberto: Nahuel Pérez Biscayart Adela: Mirta Busnelli Maestro: Guillermo Arengo |
Laufzeit | 90 Minuten |
FSK | unbekannt |
Auf ein Genre will sich The Intruder nicht festlegen: Hier ein bisschen Film Noir, dort Psychothriller, Drama oder Horror. Natalia Meta will schlicht von allem etwas und changiert zwischen den Genres. Jedes Ereignis spielt sich aber immer auf zwei Ebenen ab: Es kommt nicht von ungefähr, wenn Inés’ Stimme versagt, denn dahinter steckt auch eine Parabel auf eine Frau, die sich in Gefangenschaft wägt. Ohne zuviel über den Titel zu verraten, ist The Intruder eine Geschichte über Grenzen und Freiheiten. Eine Allegorie auf Sehnsucht und die Begehren einer Frau. So zumindest die Prämisse. Herausgekommen ist ein Film über Wahn und Wirklichkeit, der all das irgendwie auch beinhaltet. Nur selten zufriedenstellend. Soweit, so ermüdend. Noch nicht ermüdend genug? Also gut, dann lassen wir unsere Protagonistin noch Medikamente nehmen, damit die Realität endgültig in Frage gestellt werden kann.
Seicht und unkonkret
Genau die Frage, was The Intruder überhaupt sein will, wird zur Gretchenfrage. Für ein Charakterdrama fehlt es an Substanz. Obwohl Inés und Leopoldo genug Screentime als Paar haben, wird es schwer, an einem von beiden überhaupt Interesse aufzubauen. Horrorfans kommen sowieso nicht auf ihre Kosten. Außer Andeutungen passiert nämlich rein gar nichts und nur, wenn man Horror auf symbolischer Ebene wahrnehmen möchte, lässt sich eine solche Brücke überhaupt schlagen. Um ein Thriller zu sein, fehlt es der Handlung an Treibstoff. So plätschert die Geschichte vor sich hin. Mal sind wir in Inés’ Wohnung, mal im Tonstudio, mal in der Kirche. Und wieder von vorne. Wo ist nur all die Zeit hin? Die 90 Minuten vergehen und wenn der Film endet, bleibt das Gefühl zurück, gerade am Mittelpunkt angelangt zu sein – in Erwartung, dass doch noch irgendetwas passiert.
Wenn Zuschauer nicht involviert werden
Das Bild erinnert stärker an eine TV-Serie als an eine Produktion, die man auf großer Leinwand gesehen haben muss. Vor allem ist das dem Look zuzuschreiben: Die kargen Schauplätze liefern kaum etwas für das Auge und die meisten Szenen spielen in beleuchteten Räumen. Kamerafrau Bárbara Alvarez hantiert viel mit Spiegelungen, Unschärfen und Bildtiefe, um den Zustand einer möglichst surrealen Umgebung zu erschaffen. Doch so sehr sich The Intruder auch bemüht, weder auf inhaltlicher noch visueller Ebene will der Mindfuck entstehen, welcher die Produktion so gerne wäre. Für den Zuschauer fallen einfach keine Puzzleteile ab, die dazu motivieren könnten, sich die Geschichte doch selbst mal zusammenzubauen. Besonders ärgerlich ist, dass in der Mitte des Films aus dem Nichts eine Figur auftritt, die den Erklärbär gibt und ins Detail das erklärt, was man noch dem Zuschauer noch irgendeiner Form hätte lassen können.
Fazit
Soviel The Intruder gerne erzählen möchte, so wenig findet im Endeffekt statt. Was immer passiert, alles wird nur angedeutet. Die Regisseurin zieht keinerlei Konsequenzen und es bleibt bei ein bisschen Fantasiererei. Kraftlos schleppt sich die Geschichte in ein unspektakuläres Finale, das so gerne mehr sein möchte, aber einfach nicht über sich hinauswächst, weil die Geschichte von Anfang bis Ende auf einer Stelle steht. Das Berlinale-Programm nennt den Titel einen “höchst origineller Psycho-Sex-Thriller”. Wer das erwartet, darf sich darauf einstellen, genau das nicht zu bekommen. Eine Mogelpackung, die sich als intellektuelles Kino verkauft, aber völlig vergisst, dass der Empfänger auch unterhalten werden will.
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