The New Mutants

Die Entstehungsgeschichte von New Mutants zählt zu den wohl aufregendsten der jüngeren Filmgeschichte. Schon lange bevor Disney in seinem Bestreben, die Weltherrschaft zu erlangen, Fox schluckte, wurde bekannt, dass das Regie- und Drehbuch-Gespann Josh Boone (Das Schicksal ist ein mieser Verräter) und Knate Lee (Kidnap) an einem im X-Men-Universum angesiedelten Horrorfilm arbeiten. Was 2014 ins Rollen kam, durchlief eine Tour de Force, welche die Produktion bereits im Vorfeld zu einem Treppenwitz abstempelte und mit Mühe und Not im September 2020 schließlich in die Kinos kam. In einem Jahr, in dem Disney die eigenen Hits im Kinokalender möglichst weit nach hintenschiebt oder (wie im Falle von Mulan) lieber exklusiv auf Disney+ streamt. Nicht nur diese Tatsache, sondern auch das Auslassen einer Pressevorführung sprechen Bände darüber, wieviel der Mäusekonzern auf das unliebsame Fox-Überbleibsel gibt. Und es kommt noch schlimmer.

   

Dani (Blu Hunt, Another Life) weiß nichts davon, dass sie eine Mutantin ist. Die junge Cheyenne-Indianerin lebt mit ihrer Familie in einem Reservat. Eines Tages erscheint eine dunkle Macht, die das gesamte Reservat in Schutt und Asche legt. Auf der Flucht verliert Dani nicht nur ihren Vater aus den Augen, sondern auch ihr Bewusstsein. Sie erwacht ans Bett gefesselt an einem fremden Ort und die Anwesende Dr. Cecilia Reyes (Alice Braga, Predators) erklärt, sie sei die einzige Überlebende eines Tornados und befinde sich nun in einer Einrichtung für junge Mutanten, deren Kräfte kürzlich erst entdeckt wurden. Neben Dani leben vier weitere Teenager in der Klinik: Die religiöse Schottin Rahne (Maisie Williams, Game of Thrones), die widerspenstige Russin Illyana (Anya Taylor-Joy, Split), der brasilianische Aufreißer Bobby (Henry Zaga, Tote Mädchen lügen nicht) und der verschlossene Südstaatler Sam (Charlie Heaton, Das Geheimnis von Marrowbone). Sie werden rund um die Uhr von Reyes überwacht, denn die fehlende Kontrolle über ihre Kräfte kostete bereits Menschenleben. Erst wenn sie ihre Kräfte kontrollieren können, winkt die Entlassung in die Freiheit und die Aufnahme bei den X-Men. Solange stehen Tests an der Tagesordnung. Doch in der Anstalt geschehen unheimliche Dinge und Reyes ist alles andere als vertrauenserweckend.

Eine Entstehungsgeschichte wie ein Treppenwitz

Originaltitel The New Mutants
Jahr 2020
Land USA
Genre Horror, Action
Regie Josh Boone
Cast Illyana Rasputin: Anya Taylor-Joy
Rahne Sinclair: Maisie Williams
Sam Guthrie: Charlie Heaton
Danielle Moonstar: Blu Hunt
Dr. Cecilia Reyes: Alice Braga
Roberto da Costa: Henry Zaga
Reverend: Happy Anderson
Thomas Guthrie: Thomas Kee
Laufzeit 94 Minuten
FSK
Veröffentlichung: 21. Januar 2021

Als Produzent Simon Kinberg, seit X-Men: Der letzte Widerstand als Drehbuchautor in der Crew, 2015 den Startschuss gab, war längst nicht bekannt, wohin die Reise führen sollte. Mit Josh Boone wurde der Regieposten mit einem Mann besetzt, dessen Stärke auf der Darstellung von Teenagern liegt. Mit Das Schicksal ist ein mieser Verräter lieferte er ein kommerziell erfolgreiches Teenie-Drama ab. Eine naheliegende Verpflichtung, schließlich fokussiert sich auch The New Mutants auf Heranwachsende in einer Extremsituation. Denn dieser Film sollte ein purer Genre-Film sein. Ein bisschen X-Men, ja. Aber sonst ein Horrorfilm, nur eben mit Comic-Figuren. Soweit, so gut. Doch dann tat sich eine Weile nach der Ankündigung des Projekts nichts mehr, bis Ende 2016 vermeldet wurde, dass James McAvoy in der Rolle des Professor Charles Xavier zu sehen sein sollte und dass die aus Game of Thrones bekannte Maisie Williams eine der Hauptrollen übernehmen würde. Doch Fox zeigte sich nicht zufrieden mit dem ursprünglichen Konzept: Die Handlung sei zu düster, es fehle an Young Adult-Elementen.

Das Kinostart-Desaster

2017 begannen dann schließlich nach viel Vorlauf die Dreharbeiten, die tatsächlich einen Anteil von 90 Prozent echter (sprich: nicht vor dem Greenscreen abgedrehten) Szenen aufgewiesen haben sollen. Im September fiel die letzte Klappe, der Filmstart für April 2018 wurde angekündigt. Und Charles Xavier? Der war längst aus dem Drehbuch getilgt worden. Die erste Schnittfassung ging in die Postproduktion. Derweil räumte das Stephen King-Remake Es ordentlich an den Kinokassen ab und wies durchaus starke Parallelen auf: Coming-of-Age-Drama mit Teenagern und das alles vor dem Hintergrund einer düsteren Horror-Geschichte. Das kam beim Publikum an und veranlasste Fox dazu, nochmals auf Boone zuzugehen, um den Film stärker an die ursprüngliche Idee anpassen zu lassen. Es schien, als sei diese doch nicht so verkehrt gewesen. Demnach musste das Drehbuch wieder umgeschrieben werden, Nachdrehs wurden angeordnet, fanden jedoch nie statt. Es war ein Omen, dass der Kinostart von April 2018 auf Februar 2019 rutschte und schließlich im August 2019 landete. Derweil landete Disney mit dem Kauf von Fox einen Supercoup – und der Horrorfilm The New Mutants landete vor den Füßen des Mäusekonzerns.

Disneys ungewolltes Erbe

Disney wusste mit dem Film wenig anzufangen. Zu unpassend für die eigentliche Zielgruppe und ohnehin sind die Avengers eine viel buntere und poppigere Truppe. Horror? Was haben da die Teenager aus der Anstalt und ihre inneren Dämonen zu suchen? Schließlich erlitt auch noch Dark Phoenix finanziellen Schiffbruch. Hatte die Welt das Interesse an den X-Men verloren? Disney schob den Film erstmal in den April 2020. Wohlgemerkt: ohne die einst georderte Fertigstellung. Regisseur Josh Boone hatte sich längst von dem Projekt distanziert und war anderen Verpflichtungen wie der TV-Serie zu Stephen Kings The Stand nachgegangen, was auch für alle anderen Beteiligten galt. Denn gerade die Jungstars Maisie Williams und Anya Taylor-Joy gehören zu den gefragtesten Newcomern Hollywoods. Also musste Disney selbst nochmal Geld in die Hand nehmen, Effekte und Score fertig stellen. Der Rest musste bleiben, wie er ist. Es galt das Prinzip der Schadensminimierung. Und dann kam Corona. Was jetzt? Während Disney alle wichtigen Filmstarts rettete, indem es sie soweit wie nur möglich aus dem Kinojahr schob, wurde New Mutants für einen Deutschland-Start im September angestetzt. Eine eindeutige Sprache, wie der Film in der Gunst Disneys wirklich steht. Die Presse sollte besser nicht viel darüber berichten, weswegen auch keine Pressevorführung angedacht wurde. Idealerweise sollte der Film einfach ein paar X-Men-Fans in die Kinos locken, möglichst viel Kohle machen und niemand würde über das Debakel sprechen. Doch wie schlimm ist es denn jetzt wirklich?

Teenager-Gefühlswelten

Das Positive zu Beginn: Wer eine weichgespülte Horrorfassung mit FSK 12-Siegel erwartet hatte, dürfte zumindest angesichts der FSK 16-Freigabe (übrigens erst die zweite nach Logan) überrascht sein. Josh Boone ist es tatsächlich rein formal gelungen, einen Horrorfilm mit Mutanten zu drehen. Keine beiläufige Gruselmär, sondern als dominierendes Genre. Und gleichzeitig kommen auch die Charaktere nicht zu kurz: Boone findet die richtigen Szenen, um Teil an der Gefühlswelt seiner Figuren zu haben. Zumindest an dreien von ihnen, denn der Rest ist nur fades Beiwerk. Doch für diese drei, namentlich Dani, Rahne und Illyana, bleibt genügend Zeit, um sie halbwegs zu profilieren und zu jungen Menschen mit komplexen Hintergründen zu formen. Und noch besser: Das Casting-Department hat ganze Arbeit geleistet, diese Charaktere angemessen zu besetzen. Blu Hunt und Maisie Williams liefern solide Performances, doch Anya Taylor-Joy besitzt die stärksten Momente und größte Leinwandpräsenz. Ihre kriegerische Figur Illyana ist ein Troublemaker und spielt sich immer wieder in den Vordergrund. Charlie Heaton und Henry Zaga bleiben eher eine Randnotiz. Keine negative, aber eben auch nicht mehr.

Geisterbahnfahrt mit Notausgangsuche

Josh Boone ist Horror-Fan und zitiert etliche Filme des Genres. Da passt es nur, dass Kameramann Peter Deming engagiert wurde, der nicht minder horroraffin ist und sowohl an Klassikern wie Tanz der Teufel II als auch neueren Titeln wie Drag Me to Hell mitgearbeitet hat. Die Horror-Ästhetik ist vorhanden, die Kulissen sorgen für die richtigen Bedingungen. Und trotzdem kommt das Resultat nie über das Ereignis einer Geisterbahnfahrt hinaus. Obwohl die Handlung (gefühlt) ewig auf der Stelle tritt, geht es dann plötzlich doch ganz schnell und jeder der Teenager wird schemenhaft mit den eigenen Ängsten konfrontiert. Dafür wurde das Böse für jeden individuell personifiziert, was den Film noch ein ganzes Stück näher in Richtung Geisterbahn oder Horrorkabinett mit Gruselpuppen schubst. Denn die inneren Dämonen hetzen das Ensemble auch nur von A nach B und das auf eine spannungsarme Weise. Wenn sich das Finale dann in einem CGI-Overload ergießt, dann auch nur noch zwangsweise, weil die Fans es wohl nicht anders kennen. Der Showdown fällt derart unspektakulär aus, als wäre er einfach eingebaut worden, weil das Genre es so abverlangt. Und weil Superhelden-Filme sich anscheinend verpflichtet haben, irgendeine dunkle Macht am Ende immer groß aufzublasen. Egal, ob das Böse selbst oder die Hintergründe um die Klinik: Nichts davon ist auch nur einen Pfifferling wert und wird fünf Jahre später kaum noch jemandem in Erinnerung geblieben sein.

Und was bleibt?

Manche Kritiken loben den Versuch, eine Romanze zwischen zwei Figuren zu erzählen, die vielleicht unerwartet eintrifft. Löblich ist dieser Versuch allemal. Das Problem ist: Sie entsteht aus dem Nichts. Zwei, drei Szenen im Zeitraffer, an den Breakfast Club angelehnte Szenen und eine kitschige Szene, so muss das schon irgendwie halten. Als hätte man die vier bis fünf herumliegenden Bierdeckel genommen, ein Haus gebaut und auf dessen Stabilität hingewiesen. Im Besonderen sind es aber die Dialoge, die an vielen Stellen negativ auffallen: Es lässt sich anhand der jeweiligen Situation ableiten, was die Figuren sagen werden und zwar lange ehe sie es ausgesprochen haben. Und genau so kommt es dann auch. Da sagt Reyes in einer Sitzung, dass niemand “da draußen” Dani Gehör schenken würde. Und die inhaftierte Illiyana entgegnet “doch, ich”. An mancher Stelle muss der Sinn wirklich mit der Lupe gesucht werden. Wären da wenigstens ein paar Easter Eggs oder Cameos für Fans des Franchise. Aber mehr als eine einzige Erwähnung von Charles Xavier und hier dort mal das Namedropping der X-Men passiert nicht. Dass die Teens später mal Magik, Wolfbane, Mirage, Cannonball und Sunspot (der in X-Men: Zukunft ist Vergangenheit zu sehen ist) heißen, spielt keine Rolle.

Fazit

Immer wieder, wenn die Veröffentlichung des Films einen weiteren Dämpfer erhielt, blieb nur zu hoffen, dass die Qualität des Films nicht so schlecht werden würde, wie das Stigma, das man ihm anheftete. The New Mutants besitzt leider kaum Lichtblicke und umso ärgerlicher ist es, dass der talentierte Cast für dieses Ergebnis verschwendet wurde. Perlen vor die Säue trifft es in diesem Fall. Die Geschichte wird ohne ein Gefühl für Timing, Aufbau oder Atmosphäre erzählt. Sie folgt bekannten Mustern und tut sich selbst in den Basics schwer. Bis zum Schluss bleibt die Hoffnung, dass noch irgendetwas unerwartet Gelungenes eintritt. Irgendein unvorhergesehenes Ereignis. Ein Raumschiff der X-Men. Irgendein Cameo-Auftritt. Irgendwas …! Doch dann bleibt die Ernüchterung mit einer einzigen Erkenntnis: Der Höhepunkt besteht aus den Buffy-Videos, deren Foreshadowing der cleverste Einfall des Films ist.

© Disney


Veröffentlichung: 21. Januar 2021

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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Taria
Redakteur
13. September 2020 15:57

Ich habe The New Mutants gestern im Kino angesehen, er war wirklich kein herausragendes Werk, aber auch keine Vollkatastrophe. Allerdings hatte ich auch keine großartigen Erwartungen an den Film. War kurzweilig und im 4D-Kino (auch ohne das 3D) war es ganz lustig. Aber die Liebesbeziehung ist komplett überflüssig, hätte auch ohne diese funktioniert.