The Nightingale – Schrei nach Rache
Mit ihrem Spielfilmdebüt Der Babadook sorgte die Australierin Jennifer Kent für großes Aufsehen in der Filmszene. Der als Horrorfilm getarnte Titel über elterliche Überforderung und Depressionen brachte ihr viel Achtung ein. Ihre zweite Produktion The Nightingale – Schrei nach Rache (Deutschland-VÖ: 25. Juni 2020) bringt kontroversen Erzählstoff mit sich, der bereits auf seiner Premiere auf dem Sydney Film Festival dafür sorgte, dass Tumulte im Publikum entstanden und angesichts des harten Schicksals der Protagonistin um die 30 Zuschauer den Saal verließen. Die Regisseurin verteidigt ihr Werk: Es geht in The Nightingale um weitaus mehr als nur ein Einzelschicksal.
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Australien zur Zeit der Kolonialisierung im Jahre 1825: Die junge Irin Clare (Aisling Franciosi, Game of Thrones) lebt mit ihrem Ehemann Aiden (Michael Sheasby, Hacksaw Ridge – Die Entscheidung) und dem gemeinsamen Baby in der britischen Strafkolonie Van Diemen’s Land. Als Sklavin für den englischen Leutnant Hawkins (Sam Claflin, Hunger Games) fiebert sie dem Ende ihrer Gefangenschaft entgegen und sehnt sich nach Freiheit für ihre kleine Familie. Doch trotz abgebüßter Strafzeit lässt Hawkins sie nicht ziehen. Als sich ihr Mann Aiden auflehnt, eskaliert die Situation und Hawkins lässt ihn und das Baby töten. Clare wird von mehreren Männern vergewaltigt und zurückgelassen. Hawkins macht sich mit ein paar Soldaten auf in Richtung Norden. Clare, die alles verloren hat, was ihr wichtig erschien, fasst einen Plan. Gemeinsam mit dem Aborigine Billy (Baykali Ganambarr) nimmt sie die Spur auf. Mit einem Ziel: Rache.
Australien zur Zeit des Black War
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Originaltitel | The Nightingale |
Jahr | 2018 |
Land | Australien |
Genre | Drama, Historie |
Regie | Jennifer Kent |
Cast |
Clare: Aisling Franciosi
Aidan: Michael Sheasby Hawkins: Sam Claflin Ruse: Damon Herriman Jago: Harry Greenwood |
Laufzeit | 136 Minuten |
FSK | ![]() |
Veröffentlichung: 25. Juni 2020 |
Ein geschichtlicher Exkurs ist hilfreich, um die Rahmenhandlung besser zu verstehen: The Nightingale spielt zur Zeit des Black War, der sich im 19. Jahrhundert zwischen englischen Kolonisatoren und den tasmanischen Einheimischen zutrug und sein grausames Ende im Völkermord der indigenen Bevölkerung fand. Das heutige Tasmanien war zu diesem Zeitpunkt besetzt und diente als Strafkolonie, die den Namen „Van Diemen’s Land“ trug. Die meisten der Gefangenen befanden sich aufgrund kleinerer Vergehen dort, verließen Australien auch nach ihrer Freilassung nicht mehr. Auf andere wartete dort der Tod. In der Geschichte kreuzen sich die Wege der Gefangenen Irin Clare und des Aborigine Billy, während die Kolonisten durch Hawkins und seine Gefährten Ruse (Damon Herriman) und Jago (Harry Greenwood) verkörpert werden.
Keine Rape & Revenge-Geschichte …
Auf den ersten Blick mag sich der Plot wie eine Rape & Revenge-Geschichte lesen, doch Jennifer Kent geht es um anderes. So verteidigte sie ihren Film gegenüber Kritikern, dass es ihr darum gehe, von den Kolonisten ausgelebte Gewalt und Rassismus historisch möglichst akkurat darzustellen. Ohne Mittel zum Selbstzweck und ohne Plakativität. Es muss nicht viel Spielzeit vergehen, bis man Kent anmerkt, dass The Nightingale eine Geschichte über ein Trauma ist. Das Trauma am Völkermord der Aborigines im 19. Jahrhundert. Nun mag die Protagonistin nicht die Hauptbetroffene sein, und trotzdem wird auch Clare sowohl als Opfer als auch als Täterin dargestellt. Auf der einen Seite verliert sie ihre Familie, auf der anderen Seite begegnet sie selbst dem Aborigine Billy mit Herablassung aufgrund seiner Hautfarbe, zeigt sich ignorant gegenüber seiner Situation und denkt nur an ihre Familie, mit der sie sich auf einem Land niederlassen wollte, welches den Ureinwohnern entrissen wurde. Die auch für das Drehbuch verantwortliche Jennifer Kent baut ein komplexes Konstrukt auf, das sich über mehr als nur eine Dimension erstreckt.
… sondern ein Western
Nach der drastischen Einführung in die Geschichte muss der Dramatik zunächst viel Luft entweichen. Der Zuschauer hat einiges erlebt, das erst einmal sacken muss. Der anschließende Trip hat wenig mit dem klassischen Rachefilm voller Entschlossenheit zu tun, sondern lässt sich im Western-Genre verorten. Selbst Clare zweifelt immer wieder an ihrer Mission und ist weit davon entfernt, eine entschlossene und abgebrühte Protagonistin zu sein. Der ewig gleiche Urwald sorgt für Ödnis und Desorientierung. Sinnbildlich für den Weg Clares, der gezeichnet von Perspektivlosigkeit ist. Außerdem sind Clare und Billy keine Freunde, sondern Weggefährten, die immer auf Distanz bleiben. Weg von der klassischen Freundschaft, die sich aus der Not heraus ergibt.
Authentizität als Tugend
Insbesondere das Storytelling ist Jennifer Kents große Stärke. Sie verzichtet auf hintergründige Botschaften und subtile Andeutungen, sondern präsentiert all das, was geschieht, ungeschönt, aber respektvoll. Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und Kultur der Aborigines, die nicht zur müßigen Nebensächlichkeit degradiert wird. Der tasmanische Experte Jim Everett an Kents Seite sorgte dafür, dass der Anspruch der Authentizität beibehalten werden konnte und sich etwa die Einheimischen im Film mit einem tatsächlichen tasmanischen Dialekt unterhalten. Der schauspielerischen Herausforderung an die Rolle Claire zeigt sich Aisling Franciosi gewachsen, deren Darbietung facettenreich und nuanciert ausfällt. Clare ist nicht einfach nur eine Überlebende mit Blutdurst, sondern vor allem ein Opfer, das sich selbst kritisch hinterfragt, gleichzeitig aber auch Freiwild mit Überlebensinstinkt.
Fazit
Mit The Nightingale ist Jennifer Kent ein Film gelungen, der mehr über die Menschen und deren unmenschliche Verbrechen erzählt, als es den Anschein erweckt. Die persönliche Rache ist zwar das zentrale Thema, steht aber angesichts der weiter gezogenen Kreise außen vor. Eindrucksvoll, vielschichtig und komplex aufgezogen. Wie auch in Der Babadook ist The Nightingale eine Weiterverhandlung des offensichtlichen Genres, faszinierend und erschreckend zugleich.