Tokyo Girl and Boy
In der Nacht mit Freunden durch die Stadt zu bummeln, produziert (insbesondere wenn eine Bande leerer Glasflaschen involviert ist) mindestens eine Anekdote und einen mehr oder minder großen Sachschaden. Im Normalfall lacht man zwei Tage später, wenn man sich noch vage daran erinnert darüber und fragt sich verwirrt, ob sich das Stoppschild besser im Bad oder im Wohnzimmer macht. Für Nico, Nartita und Jo, die Protagonisten von Tokyo Girl & Boy, ist die Anekdote deutlich ernüchternder, mäßig witzig und beginnt mit einem Mord. Ein Detail, das im Alleingang verhindert, mit der Geschichte am morgendlichen Küchentisch einige Lacher zu landen. Um Humor ging es Regisseur Taisei Kamiyama aber vermutlich auch nicht, als er die drei 2019 zum ersten Mal auf ihre nächtliche Irrfahrt schickte, ehe der Film dann 2021 auf dem Japan Filmfest in Hamburg seine internationale Premiere feierte. Worum es ihm tatsächlich ging? Darin liegt das große Problem, denn das ist schwer zu sagen.
Nico, Narita und Jo sind alles andere als Musterknaben, sondern eine Bande gelangweilter Nachwuchskrimineller, denen Gewalt kein Fremdwort ist, sondern eines, das sie zufällig vorbeikommenden Passanten gerne entgegen schleudern. Dummerweise treiben sie es im falschen Stadtteil mit der falschen Person zu bunt und laden postwendend in einem von Yakuza geführten Büro, die ihnen zur Wiedergutmachung einen Job aufbrummen. Einen scheinbar simplen obendrein. Es gibt da einen Safe, dessen Inhalt leider nicht da ist, wo er sein soll, also werden die drei Jungen gebeten, das Eigentum Yakuza gerecht umzuverteilen. Leider ergeben sich bei der nächtlichen Plünderungstour zwei Probleme. Erstens: Der Safe erdreistet sich verschlossen zu sein und zu bleiben. Zweitens bekommen sie unerwartet Besuch. Glücklicherweise kann Problem Nr. 2 durch Jos beherztes Eingreifen gelöst werden. Unglücklicherweise beinhaltet besagtes beherztes Eingreifen einen eingeschlagenen Schädel. Eigentlich kann es jetzt nicht mehr schlimmer kommen, aber das Schicksal hat einen guten Tag und lässt sie in einem gestohlenen Auto obendrein ein entführtes Mädchen finden …
Rauchen ist des Gangsters Lust
Originaltitel | Toukyou no Furugiya |
Jahr | 2019 |
Land | Japan |
Genre | Krimi, Drama |
Regie | Taisei Kamiyama |
Cast | Kaoruko: Hikaru Saiki |
Laufzeit | 111 Minuten |
FSK | unbekannt |
Titel im Programm des Japan Filmfest 2021 |
Die Ausgangslage von Tokyo Girl & Boy klingt nach einer potentiell dramatisch-explosiven Mischung und eine Hatz durch das nächtliche Tokio. Mord, Entführung, Yakuza, die Möglichkeiten wären da, aber sowohl Tonfall als vermutlich auch Budget des Films halten hier vehement das Stoppschild hoch. Der Film dreht nach dem verhältnismäßíg rasanten Start das Tempo deutlich runter und wird auf gewisse Weise zu einem Charakterdrama, das sich stärker auf die Jungen konzentriert. Genauer gesagt den Jungen: Nico. Jo hat zwar ebenfalls seine Momente, aber Narita ist quasi das dritte Rad beim Tandem. Maßgeblich geht es im Fortlauf um die sich entwickelnde Beziehung zu dem Stauraum-Mädchen. Ab diesem Punkt ist der Film maßgeblich durch rauchgeschwängerte ruhige Dialogpassagen gezeichnet, wobei die Figuren allesamt das Emotionsthermometer auf ‘unterkühlt’ und ‘braucht Zigarette’ gestellt haben. Weder Mord noch Entführung rufen deutliche Reaktionen hervor, wobei es dennoch (meist) nicht unrealistisch wirkt. Es gibt vielmehr einen Einblick, woran die Figuren schon gewöhnt sind oder sein müssen. In diesem ruhigen Austausch, der mit Blick auf Nico und seinem Love-Interest in einem besonders schön inszenierten Moment an einem Strand (mit Zigarette) gipfelt, liegt definitiv die Stärke des Films.
Trip ins Nirgendwo
Das angekündigte Problem ist nur, dass sich der Film ein wenig ins Nichts verläuft. Wie gesagt liegt der Fokus vielmehr auf den Figuren selbst. Aber auch wenn es den Blick auf sie scharf stellt oder zumindest auf Nico (und Nikotin), bleiben die Figuren teilweise blass oder schlicht fragwürdig. Warum die drei überhaupt in dieser Lage sind, was sie dazu getrieben hat, wird beispielsweise nie direkt gesagt, teilweise wird angedeutet, dass es zumindest für Nico maßgeblich aus Langeweile geschieht. Nicht unbedingt die beste Voraussetzung für eine ordentliche Rechtfertigung von Mord und Totschlag. Vielleicht geht es auch mehr um eine strippenlose Momentaufnahme von dem Leben dreier Jugendlicher, die quasi als Second-Hand-Bürger in den dunklen Abschnitten Japans umherziehen und sich nicht in die Gesellschaft einfinden können. Vielleicht soll es schlicht einen Einblick in ein Milieu geben. Vielleicht will der Regisseur mehr designierte Raucherzonen. Vielleicht auch nicht. Alles bleibt recht vage, trotz eines erstaunlich explosiven Finales. Theoretisch könnte man hier viele Themen anschneiden, wie unter anderem die gern bemühte Freundschaft, die hier einmal in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeführt wird; wirklich überzeugend wirkt allerdings nichts.
Fazit
Tokyo Girl & Boy ist ein Film, den man sich ohne Gewissensbisse anschauen kann, aber bei dem man vermutlich im Endeffekt mit einem achselzuckenden ‘Hm’ darauf zurückblicken wird. Er ist definitiv nicht schlecht gemacht. Gerade die ruhigen Dialogpassagen und die Redeweise der Charaktere selbst wirkt natürlich (wenn auch vielleicht zu unterkühlt) und die aus gemeinsamer Zigarettensucht aufblühende Romanze weist mindestens einen schön inszenierten Moment auf, der im Gedächtnis bleibt. Entsprechend kann ich dem Film an der Front nicht viel vorwerfen, er lässt mich aber dafür am Ende mit einer gewissen Ratlosigkeit zurück. Ich weiß schlicht nicht recht, was ich mit dem Gezeigten anfangen soll. Nicht, weil es unbedingt immer nötig ist, verzweifelt nach einer Aussage zu suchen, vielmehr weil es mit einem ‘So that happened’ an einem vorüberzieht, gepaart mit einem Anfangs- und Endmonolog, der auf einen tieferen Sinn hindeutet, der sich aber beim besten Willen nicht erschließt. Zumindest nicht vorteilhaft. Letztlich ist es ein Roadtrip, den man nach zwei Tagen nicht mit schmerzendem Schädel bereut, aber einer, den man trotz vielversprechenden Starts schon bald wieder vergessen hat.
© Taisei Kamiyama