Voice of Silence
Es ist die Hochphase des südkoreanischen Kinos und ein Jahr nach dem sensationellen Oscar-Siegeszug von Bong Joon-hos Parasite wartet die Welt auf das nächste Wunderwerk aus Asien. Der Markt ist nun wesentlich empfänglicher für östliche Kunst, nun müssen nur noch die neuen Filme her, um in die großen Fußstapfen zu treten. Ein Jahr vor Parasite wurde das Psycho-Drama Burning für den fremdländischen Oscar eingereicht, scheiterte jedoch in der Vorrunde. In Voice of Silence steht wie in Burning bereits Schauspieler Yoo Ah-In in der Hauptrolle und darf sein Talent unter Beweis stellen – dieses Mal als stummer Ganove. Der komödiantische Gangster-Thriller ist auch auf den Fantasy Filmfest Nights XL zu sehen.
Der stumme Tae-in (Yoo Ah-in) lebt mit seiner kleinen Schwester zurückgezogen auf dem Land. Er verdient seine Brötchen zusammen mit seinem Kumpel Chang-bok (Yoo Jae-myung, The Gangster, the Cop, the Devil) mit kriminellen Machenschaften als Tatortreiniger der südkoreanischen Mafia und stellt dabei auch keine Rückfragen (ganz unabhängig davon, dass er dies aufgrund seiner Stummheit ohnehin nicht kann). Eines Tages gerät er an einen ganz besonderen Auftrag und soll für einen Menschenhändlerring auf ein entführtes Mädchen namens Cho-hee (Moon Seung-ah) aufpassen. Im Zusammenspiel mit dem Mädchen verändert sich etwas in seinem Inneren und er beginnt seine Existenz in Frage zu stellen.
Kein Stockholm-Syndrom
Originaltitel | Sorido Eopsi |
Jahr | 2020 |
Land | Südkorea |
Genre | Krimi-Drama |
Regie | Hong Eui-jeong |
Cast |
Tae-in: Yoo Ah-in
Chang-bok: Yoo Jae-Myung Cho-hee: Seung-ah Moon Moon-ju: Ka-eun Lee Jeong-haan: Ha-seok Jo |
Laufzeit | 99 Minuten |
FSK | unbekannt |
Titel im Programm der Fantasy Filmfest Nights XL 2021 |
Voice of Silence ist trotz seiner Thematik ein Film, der ans Herz geht oder zumindest auf dessen Nähe abzielt. Denn es geht um Menschlichkeit, um das Gefälle zwischen Arm und Reich und das Hinterfragen der eigenen Identität. Etwas, das nur im Kino funktioniert: Ganoven werden plötzlich zu Sympathieträgern, deren Entwicklung man gerne begleitet und sich an kleinen Fortschritten zu einem besseren Leben hin erfreut. Auch wenn Tae-in stumm ist und in vielen anderen Filmen Gefahr laufen würde, zu einem Sidekick zu verkommen, steht er im Mittelpunkt der Handlung. Das ist natürlich dem klugen Drehbuch, vor allem aber der ausdrucksstarken Leistung von Yoo Ah-in zu verdanken, der bereits alleine den Film Burning zu tragen wusste. Seine Überzeugungsarbeit leistet er ausschließlich über Mimik und Gestik. Damit macht er auf sich aufmerksam und gewinnt schließlich auch das Herz des entführten Mädchens. Das geschieht auf eine ganz natürliche Weise, bei der die eigentlichen Tatsachen in den Hintergrund rücken und Platz schaffen für echte Bindungen. Die gemeinsame Zeit macht nämlich mit allen Beteiligten etwas.
Ethisches Minenfeld tänzelnd durchquert
Die noch größere Überraschung ist wohl die Tonalität von Voice of Silence. Eigentlich sollte es diese angesichts der Schwere der Thematik gar nicht geben, aber sie funktioniert: Die Handlung bewegt sich souverän und leichtfüßig über das ihr zugrunde liegende kriminelle Umfeld. Im Vordergrund steht zwar die Entführung, doch die eigentliche Kernfrage ist, wie es für einen Menschen ist, nahezu unsichtbar (oder in Tae-ins Fall stumm) zu sein. Passend dazu gibt es auch wenig, das von den zwischenmenschlichen Bindungen ablenken könnte. Kein Trubel der Großstadt, keine große Ansammlung an Figuren, die das beinahe sanfte Treiben stören könnten. Eingefangen wird die Erzählweise in tollen Bildern mit starken Aufnahmen des ländlichen Settings und der emotionale Score untermalt diese feinfühligen Aspekte. Auch hier drängt sich ein Vergleich auf: Wo andere Filme vorwiegend auf Dunkelheit gesetzt hätten, spielt sich die Geschichte von Voice of Silence ausschließlich im Tageshellen ab und bringt einige sonnendurchflutete Bildeinstellungen mit.
Ausdifferenzierte Erzählweise
In manchen Szenen ist gar nicht immer klar, was das tonale Ziel der Einstellung ist. Die Stimmung kann sich durchaus auch mal ruckartig verändern. Regisseurin und Drehbuchautorin Hong Eui-jeong streut Comedy-Szenen durchaus auch dort ein, wo man sie nicht unbedingt erwarten würde. Chang-bok ist der regelkonforme Charakter und Mentor, der auf die Einhaltung von Leitlinien pocht, während Yoo Ah-in die nahbarere Figur ist, die es dem Publikum leicht macht, diese Reise mitzugehen. Was beide eint, ist ihre gesellschaftliche Randposition in einer Welt, die sie längst vergessen hat. Voice of Silence ist aber ein faszinierender Film der Gegensätze, denn während die gezeigte Welt nur nach monetären Spielregeln funktioniert, läuft die Sympathievergabe des Publikums eben nach ganz anderen Parametern ab. Chang-bok und Tae-in sind nicht die schlechte Gesellschaft, sie befinden sich nur in einer schlechten (und korrupten) Gesellschaft.
Fazit
Die Beschreibung von Voice of Silence liest sich düster und geradezu schwermütig. Wo immer es um entführte Kinder geht, ist Humor fehl am Platz. Hong Eui-jeong platziert die Handlung ihres Films allerdings von Anfang an in einem positiven Umfeld. Trotz ihrer Taten sind die beiden Ganoven Tae-in und Chang-bok nämlich sympathische Zeitgenossen, die das Publikum schnell für sich erobern können mit ihrer eigenwilligen Art. Das hebt die Handlung auf eine angenehme Weise aus all den Entführungsdramen und Menschenhandel-Thrillern hervor, denn die entschleunigte Handlung will sich gar nicht in irgendeiner Schwere wälzen, sondern sich eher mit dem Aufkeimen zwischenmenschlicher Bindungen befassen. Im problematischen Kinojahrgang 2020 gelang es Voice of Silence deshalb auch, viele Zuschauer*innen in die Kinos zu locken. Denn die 99 Minuten Spielzeit fühlen nach purem Eskapismus und Entschleunigung des Alltags da an, wo plötzlich ganz andere Dinge wichtig werden.
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