Wir

Jordan Peele landete 2017 mit seinem Debütfilm Get Out einen Volltreffer. Ein Horrorfilm, der sogar der Oscar-Jury mehrere Nominierungen wert war und bei Genrefans schon jetzt als Muss gilt. 2019 legt er mit Wir nach. Dafür gräbt Peele im Gruselfundus und fördert das verstörende Thema des Doppelgängers zutage. Erneuter Hit oder schwächelnder Nachfolger?

Familie Wilson macht Urlaub im eigenen Ferienhaus. Es soll ein entspannender Sommer werden, ohne Internet und vielleicht endlich mal mit einem Strandbesuch. Den redet Adelaide (Lupita Nyong’o, Star Wars: Die letzten Jedi) ihrem Mann Gabe (Winston Duke, Black Panther) und den Kindern Jahr für Jahr aus. Als Kind hat sie nämlich am nahegelegenen Santa Cruz Pier ein einschneidendes Erlebnis in einem Spiegellabyrinth gehabt. Sie ist auch sonst eine schnell besorgte Mutter, vor allem, wenn es um Sohn Jason geht. Doch dieses Mal gibt Adelaide klein bei und die Wilsons verbringen mit einer befreundeten Familie einen Tag am Meer. In Adelaide wächst das Unbehagen immer weiter, und als sie nachts darum bittet, den Urlaub lieber ganz abzubrechen, tauchen plötzlich fremde Gestalten in der Einfahrt auf. Das Unheimlichste an ihnen ist aber nicht die Art, wie sie sich brutal Zugang ins Haus verschaffen, sondern dass die vier den Wilsons bis aufs Haar gleichen.

Viel Symbolik

Originaltitel Us
Jahr 2019
Land USA
Genre Horror
Regisseur Jordan Peele
Cast Adelaide Wilson/Red: Lupita Nyong’o
Gabe Wilson/Abraham: Winston Duke
Jason Wilson/Pluto: Evan Alex
Zora Wilson/Umbrae: Shahadi Wright Joseph
Kitty Tyler/Dahlia: Elisabeth Moss
Rayne Thomas: Anna Diop
Russel Thomas: Yahya Abdul-Mateen II
Laufzeit 117 Minuten
FSK

Jordan Peele beginnt Wir mit einer Texttafel, die darauf hinweist, dass die USA über einem riesigen Netzwerk aus ungenutzten Tunneln liegen. Von stillgelegten U-Bahn Schächten bis hin zu alten Minen. Für manche ist gar kein ehemaliger Verwendungszweck mehr ersichtlich. Ein Fakt, der für sich allein genommen schon wohliges Gruseln verspricht. Die Vorstellung, was dort alles hausen könnte und wer diese Tunnel einst geschaffen hat – eine kreative Fundgrube. Leider sei vorausgeschickt, dass besonders dieser Faden am Ende nur lose verknotet wird. Denn wenn Wir ein Problem hat, dann das ziemlich viele reizvolle Ideen verarbeitet sind. Eher zu viele als zu wenige. Wer sich aber auf eine beklemmende Atmosphäre und persönliche Alptraumvorstellungen einlassen kann, wird ein paar holprige Momente im überfrachteten Inhalt schnell verzeihen können. Aufs Wesentliche konzentriert ist Wir ein packender Abstieg ins menschliche Innere. Als Symbol ist die unterirdische Ebene genau das richtige Element, um das Thema des Films zu präsentieren. Die Welt des Verborgenen in uns selbst.

Grandioses Schauspiel

Es ist hier aber Meckern auf hohem Niveau, dass Wir sich im eigenen Mythos ein wenig verzettelt. Das eindrucksvolle Kernstück ist zunächst die Invasion des Eigenheims. Anders als in The Strangers oder Funny Games entspringt der Terror dabei aber nicht der Willkür. Die Wilsons sind nicht zur falschen Zeit am falschen Ort, denn sie werden von ihren eigenen Schatten eingeholt. Da muss es also etwas geben, was sie wollen, was ihnen angeboten werden kann bei diesem schicksalhaften Aufeinandertreffen. Die Doppelgänger sind dank der Arbeit an Haaren und Make-up als die Monster in der Geschichte zu identifizieren. Die Schauspieler machen die Entmenschlichung mit Mimik und Körpersprache komplett. Ganz besonders Lupita Nyong’o liefert hier eine klasse Leistung ab, wenn die verschreckte Adelaide auf ihr mordlüsternes Alter Ego Red trifft. Das Ich und das Es, Jäger und Gejagte zugleich. Da stellt sich die Frage, wie man jemandem entkommen kann, der genau weiß, was man denkt und welche Stärken und Schwächen man hat. Was wir zunächst über die Wilsons erfahren, spiegelt sich auf düstere Weise im jeweiligen Gegenüber wider. So wird beispielsweise anfangs darauf eingegangen, dass Tochter Zora eine gute Läuferin ist, die viel trainiert. Ein Wettkampf in der Schule ist eine Sache, ein Rennen gegen einen ebenso schnellen Schatten mit Mordlust in den Augen eine andere.

Eine Menge Blut und doch etwas Humor

Für schwache Nerven ist Wir äußerst ungeeignet. Die klassische Home Invasion ist von der Situation schon Anspannung pur. Und obwohl Peele darauf verzichtet, die Gewalt zu zelebrieren, fließt doch einiges an Blut. Da wird schonungslos gestochen und geschlagen, Spritzer sind unvermeidlich. Und die Wilsons zeigen ihre menschliche Seite, indem so manches Mal doch der Galgenhumor siegt. Zum Glück nicht übertrieben mit zu vielen coolen Sprüchen, aber so mancher Moment kann in seiner Absurdität einen Lacher verursachen. Es ist übrigens bemerkenswert, wie so gar nicht besonders die Wilsons als Familie sind. Eine Standard Mittelklasse Familie, wie man sie überall antreffen kann. Gabe kauft spontan ein klappriges Motorboot, macht typische Dad-Witze, und Zora verzieht sich lieber mit ihrem Handy ins Zimmer. Alles furchtbar normal. Wo bei Get Out die Hautfarbe eine wichtige Rolle spielt, ist sie bei Wir eine unbedeutende Nebensache. Was schon wieder eine Revolution an sich ist, da schwarzen Schauspielern in Horrorfilmen sonst nur die Sidekick-Rollen zukommen. Gabe trägt halt ein Howard Sweatshirt, statt Harvard oder Yale.

Was will der Film denn eigentlich sagen?

Das Horrorgenre ist überfrachtet mit Filmen, die dem Zuschauer zum finalen Höhepunkt gern den Boden unter den Füßen wegziehen und mit einem Twist überraschen wollen. Jordan Peele lässt diesen Trick weg und bietet stattdessen von Anfang an Brotkrumen für die Aufmerksamen. Und wenn man das Ende der Geschichte erreicht hat, muss man zurückblicken und sich fragen, wie die Handlungen der Figuren zu bewerten sind. Das eröffnet eine ganz neue Dimension des Gruselns und wirkt nachhaltig. Ob es wirklich die echte Adelaide ist, die von ihren Eltern gefunden wird oder doch das Doppelgängermädchen namens Red, werden sich sicherlich die meisten Zuschauer schnell fragen. Muss die Kleine das Sprechen neu oder überhaupt erst lernen? Wenn die beiden zum Schluss erneut aufeinander treffen, gibt es einen Moment, der einen zunächst nochmal zweifeln lässt. Sind die beiden einfach stärker miteinander verbunden und teilen sich vielleicht eine Seele, konnten sie sich deshalb treffen? Aber Jason beobachtet seine Mutter genau, und er spürt bereits, was der Zuschauer auch ahnt. Adelaide ist der eigentliche Doppelgänger. Sie ist der Schatten, der einen Menschen in die Unterwelt gesperrt und dessen Platz eingenommen hat. Aber kann man es ihr verdenken? Selbstbestimmung und freien Willen gibt es nicht in der Welt des Verborgenen. Wenn Red von ihrem Leben erzählt, wie sie zu Abraham fand und Kinder bekam, die sie nicht wollte, dann kann man Mitleid empfinden. Red kennt das Licht der Sonne im Gegensatz zu den anderen und weiß daher, wofür sie kämpfen will. Die anderen Doppelgänger wissen gar nicht, was für Freiheiten sie vermissen. (Wer möchte, kann hier sicherlich unterstellen, dass das Thema Sklaverei doch noch Einzug hält und somit eine sozialkritische Komponente gegeben ist.) Was sind natürliche Triebe und wie formt uns unsere Umwelt? Hat Adelaide durch den Platztausch diese blutige Revolution heraufbeschworen? Und was bedeutet es eigentlich, dass sie mit Gabe zwei Kinder hat? Zora scheint ein typischer Teenager zu sein, aber Jason ist ein verschlossener Junge. Der schnell lernt, dass Pluto seine Bewegungen nachahmt, und genau das nutzt, um ihn in seinen Feuertod zu treiben. Was macht es aus, wenn die eigene Mutter keine Seele hat? Grade bei diesen Überlegungen wird klar, dass diese fast beiläufig eingeworfene Erklärung, dass die menschlichen Kopien absichtlich erschaffen wurden, eher stört. Doppelgänger, die einfach aus den düsteren Winkeln des Unterbewusstseins an einem fantastischen Ort ans Tageslicht krabbeln, hätten es auch getan. Das Symboldbild der Menschenkette, ein vergessenes Wohltätigkeitsevent, bleibt auch so interessant. Die verbuddelten Missstände wollen und können nicht mehr ignoriert werden.

Fazit

Ich empfehle Wir unbedingt weiter, weil er eine wunderbar verstörende Atmosphäre aufbaut. Die volle Punktzahl kann ich aber nicht vergeben, weil da einfach eine zu große Kluft herrscht zwischen dieser beginnenden Texttafel und der Relevanz für den Plot. In ein paar Jahren wird mich das aber auch nicht mehr stören und ich werde den Film gerne erneut ansehen, unter anderem auch, um Lupita Nyong’os doppelte Leistung zu genießen. Schon beim ersten Trailer gefiel mir die Verwendung von Luniz‘ „I got 5 on it“ und wie die simple Tonfolge ins düstere abdriftet. Ich bin dankbar, dass Michael Abels dieses Klangmotiv für seinen Score benutzt und es dann prominent inszeniert. Die Tanzsequenz der Vergangenheit, die zur Konfrontation in der Gegenwart wird, ist eine Szene, die ich mir am liebsten direkt nochmal angesehen hätte. Ich möchte Elisabeth Moss nach The Handmaid’s Tale und Wir nicht so bald wieder in rot sehen, bin aber angetan, dass auch sie hier aus kurzen Auftritten ein Maximum herausholt. Schauspielerisch lässt der Film bei mir keine Wünsche offen und ich kann noch lange an kleinen Details knabbern. Da wird sich ein zweiter Blick lohnen.

© Universal Pictures

Misato

Misato hortet in ihrer Behausung fiktive Welten wie ein Drache seinen Goldschatz. Bücher, Filme, Serien, Videospiele, Comics - die Statik des Hauses erlaubt noch ein bisschen, der Platz in den Regalen weniger. Am liebsten taucht sie in bunte Superheldenwelten ein, in denen der Tod nicht immer endgültig ist und es noch gute Menschen gibt. Íhr eigenes Helfersyndrom lebt sie als Overwatch Support Main aus und adoptiert fleißig Funko Pops.

Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
guest
1 Kommentar
älteste
neuste beste Bewertung
Inline Feedbacks
View all comments
Ayres
Redakteur
4. Mai 2019 14:50

Der Film wird von vielen zu Unrecht total zerrissen. Weil viele einfach nicht verstehen, dass es auch Horrorkomödien gibt, die eben nicht total platt sind, sondern den Zuschauer trotzdem zum Mitdenken und vielleicht auch interpretieren anregen können. Ich für meinen Teil kann sagen, dass “Wir” einer meiner besten Kinobesuche der letzten Jahre war, was auch ein bisschen daran liegt, dass ich die Mischung aus Spannung und witzigen Momenten unheimlich ausbalanciert finde. Immer dann, wenn man denkt, dass die Geschichte dramatisch wird, kommt irgendein unvorhersehbarer Gag und andersrum reißt die Geschichte einen auch schnell wieder mit. Ich habe die Diskussionen zu “Wir” allerdings nur sehr ungerne wahrgenommen, weil es immer schnell politisch wird und man leider noch immer keinen Film mit schwarzen Hauptdarstellern abdrehen kann ohne dass sich diverse Leute auf die Füße getreten fühlen…..
Lupita Nyong’o finde ich einfach großartig und wirklich oscarreif in ihrer Darstellung. Da ich Black Panther bis heute nicht gesehen habe, ist das in der Tat das erste Mal, dass ich sie wahrnehme und bin sehr angetan von ihrer Performance.
An der Geschichte nölen viele herum, dass die Auflösung zu banal ist. Es gibt auch einen Punkt, an dem ich mich störe: Mir ist es irgendwie zu blöd, indem man einfach sagt, dass jeder Mensch eben diesen Schatten hat. Das finde ich zwar einerseits genial, andererseits aber auch an den Haaren herbeigezogen, wenn man diesem ein Eigenleben eingesteht. Das ist mir dann insgesamt doch zu abgedreht, auch wenn ich diese Entwicklung des Plots ohne weiteres akzeptieren kann. Deutlich besser gefällt mir, was sich hier im Hintergrund aufbaut. Die Katastrophe geschieht in Echtzeit, was der Handlung unheimlich viel Dynamik verleiht. Sie geschieht im Offscreen und das macht es so schwer, das volle Ausmaß abzuschätzen und irgendwann auch zu akzeptieren. Wie gruselig so eine Menschenkette einfach mal ist.
Die Verwurstung von “I got five on it”. Suuuuuuuuuper! In meiner Kindheit war das ein Hasslied von mir, muss aber eingestehen, dass diese paar Notenabfolgen wirklich unheimlich sind und das alleine schon zu identifizieren finde ich ungemein geglückt.

Es ist ein wenig unfair, den Film mit “Get Out” zu vergleichen. Gemeinsam haben beide einfach nur, dass sie verdeutlichen, wie flexibel das Horror-Genre eigentlich ist und auf der anderen Seite, dass auch Komödien (bzw. Satiren) sehr beängstigend sein dürfen.