Cyberpunk 2077
Acht Assassins Creed, zwei Päpste, die Kommerzialisierung der US-Raumfahrt und eine Trump-Ära hat’s gebraucht, bis Cyberpunk 2077 seit seiner Ankündigung im Jahre 2012 endlich für den Markt freigegeben wurde. Gut Ding will Weile haben, wa? Rechtzeitig zur Verschärfung des Lockdowns spendiert das polnische Studio CD Project RED (The Witcher 3: Wild Hunt) den Gamern ihren cyberpunk’schen Himmel auf Erden. Wer will, könnte die Main Story vermutlich in geschätzt 40 Stunden durchackern. Wir von Geek Germany gehören jedoch zu den Genießern. Daher an dieser Stelle unser »First Look« hinein in die Megalopolis Night City. Der vorliegende Artikel basiert auf der PC-Version von Cyberpunk 2077. Auf die massiven technischen Probleme des Titels auf den Last-Gen-Konsolen (PS4, Xbox One) wird hier nicht eigens eingegangen.
In Cyberpunk 2077 schlüpfen wir in die Haut der Söldnerin/des Söldners V, die je nach eigenen Vorlieben entweder eine freiheitsliebende Nomadin, ein zwielichtiges Straßenkind oder eine gut bezahlte Schlipsträgerin ist. Das sind die drei Optionen, die uns bei der Wahl unseres Lebenspfads gegeben sind. Und auf diesem Pfad betreten wir Night City, jene überladene Millionenstadt, in der Konzerne und Gangs zwischen Glamour, Abfall und Körpermodifikationen um die Vorherrschaft kämpfen. Vs Leben wird gehörig auf den Kopf gestellt, als sie einen Auftrag annimmt, der sie in die gefährliche Nähe zum Megakonzern Arasaka bringt. Sie soll ein einzigartiges Implantat entwenden, welches sich als der Schlüssel zur Unsterblichkeit entpuppt.
Ein Füllhorn der Möglichkeiten
Originaltitel | Cyberpunk 2077 |
Jahr | 2020 |
Plattform | Microsoft Windows, Google Stadia, PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One, Xbox Series X/S |
Genre | Action-RPG |
Entwickler | CD Project RED |
Publisher | CD Project RED |
Spieler | 1 |
USK | |
Veröffentlichung: 10. Dezember 2020 |
Der Beginn von Cyberpunk 2077 ist abhängig von unserem gewählten Lebenspfad. Als Nomade starten wir unsere Reise draußen in der Pampa. Die Megastadt Night City ragt wie eine ferne Verheißung am Horizont auf – ganz so wie das Game selbst jahrelang eine Verheißung gewesen ist. Dass wir als Nomade aus den kargen Badlands kommen, macht den Kontrast später in der überladenen Megacity noch einen Tacken eindrucksvoller. Cyberpunk 2077 erschlägt einen – sowohl was die Gestaltung von Night City betrifft, als auch die Spielmechaniken. Zwar sind die meisten Mechaniken für sich genommen nichts Neues, doch ihre Komplexität und schiere Masse sind anfangs nicht ohne. Es gibt Schusswaffen, Schlagwaffen, körperintegrierte „Mantisschwerter“, simplen Faustkampf, Stealth- vs. Baller-Modus, Quickhacks, Crafting für Upgrades und Item-Herstellung, Millionen Wege sich ästhetisch sehr fragwürdig zu kleiden (Guido Maria Kretschmer würde sagen: „Das tut nichts für dich, Darling.“), ausladende Talentbäume und die sogenannte Cyberware, die ihrerseits wieder unterteilt ist und massig Funktionen und Mod-Möglichkeiten bereithält. Wenig später kommt noch die Braindance-Funktion dazu und man denkt sich: „Woah. Und das sind jetzt alles Mechaniken, mit denen ich klar kommen muss? Holy … !“ Die „Quickhacks“ entsprechen in RPG-Sprech den Zaubersprüchen, während die Magiepunkte „Speicherpunkte“ genannt werden. Je nachdem, wie man drauf ist, braucht es ein paar Stunden Eingewöhnung, um das alles zu begreifen – vor allem, wenn man bis dato jede Vorabinformation über Cyberpunk 2077 gekonnt umschifft hat und auch weiterhin ganz ohne Internet-Guides spielen will, um die volle Dröhnung zu bekommen. Nur man selbst und Cyberpunk 2077 – lasst die Schlacht beginnen.
Eine Stadt vom Stadtplaner
RPGler, die mit dem Dora the Explorer-Gen gesegnet sind, werden ihre Zeit erst einmal damit verbringen, die Fragezeichen auf der Karte abzuklappern. Wenn wir eines aus The Witcher 3 gelernt haben, dann, dass Side Quests rechtzeitig erledigt werden wollen. Alles mitnehmen was geht, wa? Dieserart kann es passieren, dass die Titeleinblendung „Cyberpunk 2077“ erst nach 20 Stunden aufploppt und man merkt: „Ach, bin ja immer noch im Prolog.“ Sich zu verlieren: das ist in Night City eine stets präsente Gefahr. Nicht der Spieler steht im Mittelpunkt, sondern die Metropole. CDPR setzt hierbei auf Environmental Storytelling. Jeder Distrikt erzählt seine eigene Geschichte, sieht anders aus und fühlt sich anders an. Im archaischen Pacifica-Distrikt läuft man unvorhergesehen in einen Bandenkrieg hinein, während im blankpolierten Stadtzentrum das martialisch aussehende „Trauma Team“ dabei ist, die halbtoten Überreste eines stinkreichen Patienten vom Asphalt zu kratzen. Über die Scan-Funktion in der eigenen Cyberoptik lassen sich viele Dinge in Night City auf Informationen (oder Hacking-Möglichkeiten) scannen. Dazu gehören auch die ungezählten NPCs, die allesamt einen Namen tragen und nicht wenige auch ein Vorstrafenregister („Ananas auf Pizza“ ist eines der möglichen Verbrechen). Und während man freudig vor sich hin scant, hört man sogar manchmal von irgendeinem Arcade-Automaten in der Nähe The Witcher 3-Musik dudeln. Night City ist räudig, gleichzeitig aber auch wunderschön. Das Design der Stadt wirkt organisch und funktional, was daran liegen könnte, dass sich CDPR professionelle Stadtplaner mit ins Boot geholt hat. Häufig hat man auch einfach das Gefühl, in Tokio zu stehen (Asien und Cyberpunk pflegen ohnehin eine symbiotische Beziehung, siehe Ghost in the Shell). Und weil Night City so lebendig wirkt, denkt man in keiner Weise daran, die Schnellreisefunktion zu nutzen (Stand: 35 Stunden Spielzeit, Anm. d. Red.)
„Werbung“ und Bugs inklusive
Was man in der Realität lieber vermeidet, nämlich die Berieselung durch Werbung, lässt man in Cyberpunk 2077 nur allzu gerne zu. Läuft irgendwo der Fernseher, bleibt man davor stehen und schaut sich die „JustAdds“ an. Nur eines von etlichen Details, welche die Welt von Cyberpunk 2077 so urtümlich erscheinen lassen. Und wenn wir schon einmal dabei sind, nehmen wir auch gleich die daran anschließende Late Night Show mit Ziggy Q mit. Hier erfahren wir, dass sich die Fraktionen im Hintergrund unserer eigenen belanglosen Geschichte um das Bürgermeisteramt kloppen. Sicherlich ein Wink mit Chekhovs Gewehr. Apropos Gewehr: Als First-Person Shooter macht Cyberpunk 2077 absolut Laune und damit eine dufte Figur. Da wird selbst der überzeugteste Stealth-Spieler irgendwann freiwillig zum Rambo, damit er zu derber Industrial-Mucke, die glatt aus Doom Eternal stammen könnte, Leute niedermähen und sich dabei absolut dope vorkommen kann. Und was ist mit den Bugs? Die gibt es: In der Luft hängende Assets, KI-Aussetzer, ineinander gespawnte NPCs und – der größte Wermutstropfen – ein Trauma Team, das von einer Sekunde auf die nächste einfach verschwindet. Das alles sind Schönheitsfehler, die man aber auch einfach auf die eigene fehlerhafte Cyberoptik schieben kann, wenn man denn im Gamekosmos bleiben möchte. Hat man als Langsamtreter nach 20 Stunden den Prolog hinter sich gebracht, beginnt die Geschichte gerade erst einmal. Das Feld der Love Interests öffnet sich sowie die Möglichkeit, sich an jeder zweiten Ecke ein Auto kaufen zu können. Und schließlich taucht auch Keanu Reeves in der ihm zugedachten Rolle auf. Mit null Vorahnung mochte man vielleicht annehmen, dass Reeves nur ein Sidekick sei, der im Spiel höchstens als storyinterner Megastar die Bühnen von Night City rocken wird (so ähnlich wie die Band In Extremo in Gothic 1). Doch weit gefehlt: Reeves Rolle ist geradezu essentiell.
Fazit
Ich bin gespannt, wohin sich Cyberpunk 2077 mitsamt seiner Geschichte entwickeln wird. Angesichts des Hypes, der durch die Fans (aber auch durch die CDPR-Werbefritzen) erzeugt wurde, könnte man meinen, dass das Game vor allem als reine Eskapismus-Fantasie betrachtet wird: „Tschüssikowski, liebe Realität, ich verabschiede mich mit meinem individualisierten XXL-Genital und mach damit erstmal die Love Toys im Stadtzentrum platt.“ Sicherlich ’ne tolle Sache. Was mich aber persönlich noch mehr interessiert, ist die Zukunfts- und Realitätskritik, die in einem Spiel dieses Formats stecken könnte. Das Environmental Storytelling und die Lore geben diesbezüglich schon einiges her: Night City ist höchst sexualisiert, gewalttätig, werbelastig, korrumpiert, abgestumpft und es gibt kaum Lichtblicke. Die Stadt ist keine Welt, in der man leben möchte – sie aber als Spielfigur zu erleben ist ein absoluter Genuss. Man sieht das Herzblut der Entwickler, das von jeder zerschossenen Wand auf den Asphalt tropft. Und die Bugs? Auch nicht schlimmer als zu den Anfangszeiten von The Witcher 3 oder Skyrim. Klar, nachdem man acht Jahre lang geduldig gewartet und nun immerhin 60 Öcken geblecht hat, erwartet man ein fertiges Endprodukt. Aber ich bin nicht auf Krawall gebürstet. Während die Community in Flammen aufgeht, sitze ich hier und genieße tatsächlich das Spiel. Schaut toll aus und die Story samt Figuren haben mich direkt gehooked. Ich lass Cyberpunk 2077 jetzt einfach reifen. Wir sehen uns dann in zwei Jahren zu meinem „Durchgespielt“-Fazit wieder.
p.s.: Mein größter Wunsch für die nächsten 200 Stunden Spielzeit: Eine Quest mit dem Trauma Team. Bitte hab so etwas eingebaut, CDPR, bitte …
© CD Project RED
Veröffentlichung: 10. Dezember 2020