Dies Irae ~Amantes amentes~
Kleiner Ausflug in die Geschichte: Wer wusste, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs eine Gruppe Supernazis ein dunkles Ritual mit den Seelen tausender Soldaten durchgeführt hat, um in einem Knochenschloss in eine Zwischendimension zu schippern, nur um mehrere Jahrzehnte später zurückzukehren und die Welt als nahezu unsterbliche Dämonenkämpfer zu unterjochen? Einmal Hände hoch, bitte. Hm. Niemand? Beschämend. Kein Wunder also, dass Studio Light und Publisher Views sich genötigt fühlten, 2007 einen Nachhilfeunterricht der besonderen Art in Form der Visual Novel Dies Irae ~Amantes amentes~ ins Leben zu rufen. Wobei das Curriculum 2007 noch nicht vollständig war und entsprechend den Sub-Titel Also sprach Zarathrustra trug, erst nach und nach wurde das Unterrichtsmaterial ergänzt. 2009 der zweite Teil Acta est Fabula und schließlich 2012 die abgeschlossene Variante Amantes amentes, die zunächst über die lehrreiche Playstation Portable verfügbar war und über die Zeit hinweg Portierungen für die Switch erfuhr sowie eine vollständige Steam-Version. Wahrhaft eine illustre Geschichtsstunde mit illustrer Geschichte, bleibt aber die Frage offen, ob sich die Nachhilfegebühren lohnen oder ob es zur langatmigen Paukerei verkommt. Tatsächlich ein bisschen was von beiden, in jedem Fall aber ein ganz eigenes Erlebnis.
Ren Fuji ist ein halbwegs normaler japanischer Oberschüler, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass seine Tage so friedlich und so unabwechslungsreich verlaufen wie bisher. Logischerweise hat er damit den absoluten protagonistischen Kardinalfehler begangen, denn solche Denkweisen kann das Schicksal nun überhaupt nicht vertragen. Verständlich also, dass er sich auf kurz oder lang mit einer seltsamen Mordserie und einer Invasion von Supernazis, konkret dem Longinus Dreizehn Orden des obsidianen Rundtisches (zergeht einem auf der Zunge, der Name, oder? Das ist noch gar nichts, versprochen!), konfrontiert sieht. Dass er zusätzlich, um in dem Kampf auf Leben und Tod überhaupt eine Chance zu haben, die Kraft eines Ahnenerbes (= extrem starke Waffe mit viel Kaboom-Potenzial) in sich aufnehmen muss, kann da schon fast gar nicht überraschen. Und niemand würde noch mit der Wimper zucken, wenn er erführe, dass besagtes Ahnenerbe als eine Art lebendige Sense in ihm lebt, die durch die Kraft der Seelen, die sie erntet, stärker wird, und obendrein die Gestalt eines jungen, blonden, spärlich bekleideten Mädchens aus dem revolutionären Frankreich annimmt. Mal ehrlich, wie hätte es auch sonst kommen können?
Ein langes Semester
Originaltitel | Dies Irae ~Amantes amentes~ |
Jahr | 2017 (J: 2007) |
Plattform | PC |
Genre | Visual Novel |
Entwickler | Studio Light |
Publisher | View |
Spieler | 1 |
USK | unbekannt |
Nach dieser Ausgangslage bedarf es erst einmal eines kleinen Verschnaufers in Form einiger Anmerkungen. Zunächst das Wichtigste: Dies Irae ~Amantes amentes~ (ab sofort, um eventueller Tippfingerfäule vorzubeugen, Dies Irae abgekürzt) ist eine Visual Novel. Punkt. Es bietet darüber hinaus keine Gameplay-Elemente, abgesehen von einigen Dialog-Auswahlmöglichkeiten, die aber nicht des Rollenspiels dienen, sondern schlicht als Weichenstellung gesehen werden können, die die Handlungsschienen auf eine der insgesamt vier Strecken bzw. Routes lenkt. Die Routes orientieren sich ganz klassisch an vier Mädchen, mit denen Ren zu tun bekommt. Wer die ein oder andere VN gelesen hat, könnte jetzt hier an einen stark romantikorientierten Ablauf denken, aber davon ist Dies Irae ziemlich weit entfernt. Zwar kommt Ren in der jeweiligen Route mit der Person zusammen, aber es ist, der Benennung der Handlungsstrecken zum Trotz, keineswegs der Hauptfokus. Der besteht vielmehr in den Konfrontationen mit den schon mehrfach genannten Super-Duper-Nazis, die über die Stadt hereinbrechen, in der es der Protagonist wagt zu leben. Die Geschichte ist dabei allerdings keineswegs auf schnelle Action und einer Kampfsequenz nach der anderen aus. Es ist ein wahrhaft episches Unterfangen, welches, alles zusammen genommen und je nach eigener Lesegeschwindigkeit, gut und gerne 80 bis 100 Stunden in Anspruch nimmt, um alle Routen und auch die Nebengeschichten zu sichten. In Fachkreisen spricht man in diesem Zusammenhang von einem ‘dicken Wälzer’ oder einem ‘ziemlichen Brett’.
Nightmarish Hellspawn-Inferno Rising Phoenix Spear
Wenn man Dies Irae nun genauer einordnen müsste, gehört es wohl in der Essenz zu dem ‘Hauptcharakter und Freunde treffen auf hierarchisch geordnete Bösewichtgruppe der supernaturellen Art, die in Reihenfolge niedergeohrfeigt wird, wobei der Hauptcharakter immer stärker wird, bis er im finalen kolossalen Showdown den Obermufti die Ohren taub kampfschreit’-Genre. Die Inhaltsangabe dürfte schon Bände sprechen, aber wer auch nur mit einem Hauch an Subtilität rechnet, glaubt auch, dass ein Rammbock ein feinmechanisches Anklopfinstrument ist. Nur ein Blick auf den Longinus Dreizehn Orden des obsidianen Rundtisches dürfte ausreichen um zu verstehen, dass die Schreiber der VN im Begründungskästchen neben dem Namen ein ‘klingt cool’ stehen hatten. Eine Begründung übrigens, die in sehr vielen Kästchen steht. So wie wir als Deutsche gerne einmal Begriffe aus Sprachen stibitzen, um beispielsweise ein Flugzeug nicht als schnöden ‘Adler’, sondern als ‘Eagle’ oder ‘Aquilus’ oder ‘Dark Death Destroyer of Crimson Hell’ zu bezeichnen, wirft auch Dies Irae mit deutschen, lateinischen und generell mythologischen Namen und Begriffen nur so um sich. Persönlicher Favorit: Rosenkavalier Schwarzwald. Es wird nicht verraten, in welchem Zusammenhang, wieso, weshalb oder warum, aber es ist da und es ist glorreich.
Mit Pomp und Glorie
Generell fährt Dies Irae in allen Bereichen im wahrsten Sinne des Wortes die größten Geschütze auf. Es ist eine Visual Novel, die das benannte Genre vollkommen umarmt, knuddelt, regelrecht zerdrückt und dann unter dröhnenden Orgeltönen in die Luft sprengt. Bereits die einleitende Ansprache sowie die ersten Sequenzen, die noch im Kriegsberlin spielen, geben den Rhythmus vor, unter dem nun weiter marschiert wird. Wenn Dies Irae aufdreht, dann richtig. Gerade der Soundtrack sticht hier besonders hervor, der sich mit seinen wuchtigen Klängen – überwiegend klassische Wagner-Stücke in rockig-shreddigerer Form – aber auch seinen quasi sakralen Momenten in die Gehörgänge rammt. Diese Opulenz beschränkt sich jedoch nicht auf die Musik, sondern überträgt sich auch auf den Text selbst. Es wird bildgewaltig erzählt mit mannigfaltigen ausschweifenden Beschreibungen, schier endlosen auf einen hereindonnernden Monologen und einer generellen Wortgewalt, die nicht gerade tiefsinnig ist, egal wie pseudophilosophisch die Litaneien auch werden mögen, aber trotzdem im Gedächtnis bleibt.
Das Gute: … die Nazis?!
Ebenso verhält es sich mit der Bösewichtriege, gegen die zu Felde gezogen wird. Der Longinus Orden besteht aus einem wahrhaft erinnerungswürdigen Cast. Wilhelm von Ehrenburg, ein Albino-Vampir-Serienmörder; Rusalka Schwägelin, dämonische Sumpf-Loli-Hexe; Eleonore von Wittenburg, halb verbrannte Artillerie-Beschwörerin der feurigen Art. Die Liste geht weiter und kratzt nur an der Glorie von ihrem Anführer Reinhard Tristan Eugen Heydrich, der Monarch der Zerstörung (die Namen werden einfach nur besser, oder?). Es ist spätestens an dieser Stelle und gerade in dem Zusammenhang, dass eines ganz deutlich gemacht werden muss: Dies Irae schnappt sich die zweite Weltkriegsthematik, aber setzt sich nicht ernsthaft damit auseinander und will es offensichtlich auch nicht. Wem das Thema (verständlicherweise) quer liegt und/oder sich einen ernsthafteren Umgang wünscht, der unter anderem beinhaltet, dass es nicht als Hintergrund eines Quasi-Shounen genommen wird, nun, der sollte vermutlich weiten Abstand nehmen. Nicht zu sagen, dass Dies Irae sich nicht an und für sich ernst nehmen würde, aber es ist derart übertrieben, die Figuren paradox und über alle Maßen verrückt, dass es (eigentlich) keinen Zweifel lässt, wie man es sich angucken sollte: Als pure Unterhaltung.
The Not So Good, the Bad and the Ugly
Bis zu diesem Punkt könnte man jetzt denken: ‘Klingt nach einem launigen Action-Fest in virtuellem Buchformat’; was Dies Irae definitiv sein kann, aber es gibt auch einiges an ‘Aber’. So glorreich (Obacht, nicht sympathisch!) die Gegenspieler sein mögen, Ren Fuji und seine tollkühne Crew wirken dagegen eher wie eine Handvoll blasser Kadetten. Sie haben keinen obsidianen Rundtisch, sondern höchstens ein paar Barhocker und einen Stehtisch und sind obendrein schnell vergessen. Ren ist der typische Held wider Willen, der dann mit seinem starken Willen und lalala und blabla die Kohlen aus dem Feuer holt. Er ist letztlich Spieler/Leser Insert-Material, den die Geschichte verzweifelt versucht, so cool es geht, darzustellen, aber fliegt damit zumeist auf die Nase. Er ist nicht unerträglich, aber vermutlich wird er einem nur aufgrund seiner Kampfschrei-o-philie im Gedächtnis bleiben. Seine ‘Romance’-Optionen sind auch nicht der Rede wert. Verschiedene Tropes wie die altbekannte Kindheitsfreundin werden bedient, aber die Beziehungen wirken nie wesentlich, die Szenen sind auf ein Minimum begrenzt und entsprechend braucht es enorm viel guten Willen, um überhaupt von ‘Romance’ zu sprechen. Die letztlichen Auflösungen haben ihre Momente, aber die Charakterentwicklungen fühlen sich oft extrem forciert an, damit Ren im Mittelpunkt stehen darf. Andere Nebenfiguren machen sich rar und es ist bezeichnend, dass man sich selbst nach etlichen Stunden ernsthaft fragt, warum Ren die Zeit mit ihnen so sehr schätzt, dass er gegen eine Gruppe bösartiger deutscher Supermen in den Kampf ziehen will.
Ein wirklich, wirklich langes Semester
Was umso schwerer wiegt, wenn man bedenkt, dass die Visual Novel keine kurz- und schmerzlose Angelegenheit ist. All die Wortgewalt ist zwar an der Oberfläche wirklich eindrucksvoll, aber ohne Charaktere, für die man sich interessiert, fühlt sie sich oftmals hohl an. Gerade all die endlosen Monologe, bei aller Bildhaftigkeit, wirken viel zu häufig unnötig verkompliziert und bedeutungsvoll, obwohl kaum etwas dahinter steht. Szenen ziehen sich dahin und werden meist nur durch die grandiosen Sprecherleistungen getragen. Es mag zwar japanisch sein, aber selbst wer kein einziges Wort versteht, wird da doch anerkennend nicken müssen. Jede Figur wirkt (erneut insbesondere die Gegenspieler) einzigartig in ihrer Performance und es wäre ein vollendender Spass, ihnen zuzuhören, wenn, ja wenn sie irgendwann einmal zum Punkt kämen. Das, gepaart mit dem Gefühl, dass Dies Irae sich in seiner Verdrehtheit mitunter zu sehr selbst verliert, führt dazu, dass man doch immer wieder flehend auf die Uhr schielt und sich zurückhalten muss, sich nicht mittels ‘Weiter’-Taste zum Kapitelende vorzuhämmern. Statt mit Kritik schließen wir aber mit einem hilfreichen Hinweis: Die Steam-Version, auf der dieses Review basiert, ist zum Teil gratis zugänglich. Konkret handelt es sich um den Prolog und einen Teil der Common-Route, sprich den Part, indem alle Handlungsfäden übereinstimmen. Die weiterführenden Routen müssen dagegen erworben werden. Auf diese Weise kann aber sich zumindest selbst ein Eindruck von der wilden (und langen) Schreiberei gemacht werden.
Fazit
Dies Irae ~Amantes amentes~ ist ein seltsames Ding. Auf der einen Seite ist es aufgrund all der Bild- und Wort-Opulenz schlicht beeindruckend und hat eine wahrhaft erinnerungswürdige Antagonistenriege, aber auf der anderen Seite … puh. Ich bin extrem zwiegespalten, da ich auf die knapp 90 Lesestunden starre und mich frage: Hat sich das jetzt wirklich gelohnt? Es gab genügend Punkte, an denen ich es schlicht aus Prinzip beenden wollte und nicht so sehr, weil mich es derart fasziniert hat, was passiert ist. Das liegt einerseits an der erwähnt eher schwachen Protagonisten-Crew, andererseits aber auch daran, dass ich selbst mit den großen Konfrontationen nicht mehr wirklich Freude hatte. Zu oft war dann ein Kampf schon zu 100 Prozent verloren, von dem Text auch mehrfach beteuert, dass eine Figur nach dem 500. Megatonnen-Schlag auch wirklich aller Kräfte beraubt war, nur um dann mit einem ‘However’ irgendwelche letzten Reserven zu aktivieren oder ein anderes Deus Ex Machina-Momentchen hereinflattern zu lassen. Es fiel mir schwer, da nicht diese stete Formelhaftigkeit zu sehen, was dann bei der Dauer schlicht die Motivation hinunter schmirgelt. Trotzdem kann ich Dies Irae ~Amantes amentes~ nicht verdammen, denn ich bin der festen Überzeugung, wer sich darauf einlassen kann, bekommt hier einen verrückten, pseudo-coolen, aber das auch gleichzeitig zelebrierenden Supernazi-Battle-Epos geliefert, der in Erinnerung bleibt. Auch wenn ich nicht empfehlen würde, es als Grundlage für die nächste Geschichtsklausur zu nehmen. Da liefert die Nachhilfe dann doch zu fragwürdige Ergebnisse.
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