Disco Elysium – The Final Cut
Du wachst auf ohne zu wissen, wer du bist – süchtig nach Speed und Alkohol. Draußen im Hinterhof baumelt seit einer Woche eine Leiche vom Baum. Stimmt, eigentlich bist du hier, um dazu Ermittlungen anzustellen. Doch stattdessen steckst du in einem Klassenkampf zwischen versnobten Kapitalisten und korrupten Kommunisten fest, während du gleichzeitig versuchst, mit irgendwelchen Teens einen Danceclub aufzuziehen. Himmel, wo bist du da nur wieder reingeraten? Mit dem Indie-RPG Disco Elysium landete das britische Entwicklerstudio ZA/UM im Jahre 2019 einen Volltreffer. Innerhalb kürzester Zeit avancierte das Game bereits zum Kult’klassiker‘, ausgezeichnet mit drei BAFTA-Awards und gesegnet mit der Liebe der RPG-Szene. Zwei Jahre später erscheint nun Disco Elysium – The Final Cut, die ultimative Neuauflage (erstmals auch für die Konsolengeneration) mit neuen Charakteren, neuen Quests, mehr Items, mehr Details und – das Herzstück – mit einer ausgezeichneten Vollvertonung.
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Mord in Martinaise: Im Hinterhof eines Hostels hängt eine Leiche am Baum. Ein Detective des BMR soll den Fall untersuchen und quartiert sich ein. Blöd nur, dass der sich in der erstbesten Nacht die Volldröhnung gibt und ohne Gedächtnis, ohne Ausweis und ohne Waffe wieder aufwacht – komplett unfähig irgendwas zu lösen. Doch Hoffnung naht in Form des Kollegen Kim Kitsuragi. Zu zweit machen sie sich auf, den Mord zu ergründen. Das und, naja, die verlorene Identität des Saufkopps – sowie die Geheimnisse der ganzen Welt.
Buddy Cop Show
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Originaltitel | Disco Elysium – The Final Cut |
Jahr | 2019 (Erstveröffentlichung), 2021 (Final Cut) |
Plattform | Microsoft Windows, macOS, Playstation 4/5, Stadia, Xbox One, Xbox Series X|S, Nintendo Switch |
Genre | RPG |
Entwickler | ZA/UM |
Publisher | ZA/UM |
Spieler | 1 |
USK | ![]() |
Veröffentlichung: 12. Oktober (digital) 9. November 2021 (physisch) |
Wer heutzutage als Kriminalbeamter arbeitet, dessen größte Herausforderung ist nicht der Mordfall an sich, sondern das eigene Privatleben. Wenn der Detective nicht mindestens einen schweren Charakterfehler hat, kann man ihn nicht ernst nehmen, gell? Auch auf unseren Saufkopp Harry trifft das zu (sofern wir uns für diesen Namen entscheiden), ausgestattet mit blutunterlaufenen Augen, glänzend geschwollener Haut, hochgradiger Amnesie und einer Grinsefresse jenseits von Gut und Böse. Ob Harry aber das dysfunktionale Wrack bleibt oder sich nicht doch verbessert zu »nur exzentrisch«, liegt ganz allein bei uns Spielenden. Dabei zur Seite steht uns Lieutenant Kim Kitsuragi, wunderbar trocken gesprochen von Jullian Champenois. Ein sehr gut ausgearbeiteter Charakter, stoisch, professionell und mit versteckten Eigenschaften, der sich häufig in Gespräche einmischt und das komplette Gegenteil zu Harry bildet. Ganz so steif, wie es nun klingt, ist Kim aber nicht, denn es ergeben sich genug Situationen, in denen der Lieutenant bei Harrys Possen mitspielt. Wenn Harry mit einer kotzgelben Pfandflaschentüte in der Linken und einem Ghettoblaster in der Rechten durch Martinaise läuft und junge Mädchen fragt, ob sie »Partyyyy« machen wollen, dann ist der gute Kim halt sein Wingman – aber nur wenn’s die Ermittlungen voran bringt, freilich! Ob die beiden Best Buddies werden oder nur Partner wider Willen hängt von der eigenen Spielweise ab.
Autorität: »Steck dir den Finger in den Hintern.«
Von Kim abgesehen, hat unser Protagonist noch 16 weitere »Charaktere« in petto, die ihn unterstützen: seine Attribute (also Wesenszüge), von A wie Autorität bis Z wie Zwielicht. Diese Skills, die in Harrys Kopf mit der durchdringenden Stimme von Lenval Brown (Black is Beltza) wilde Dialoge führen, sind eine der vielen vielen herausragenden Besonderheiten von Disco Elysium. Die Skills gehören vier Fraktionen an (Intellekt, Psyche, Konstitution und Motorik) und haben allesamt ihre eigene Charakterfärbung. »Schauspielkunst« redet stets geschwollen in der dritten Person, »Elektrochemie« ist der kleine Luzifer, der uns verleiten will, an Drogen zu lecken, »Willenskraft« fragt uns mehr als einmal »was zum Teufel?!« mit uns los ist und »Zwielicht« will einfach nur alle verkloppen. Meistens ist es gut, auf die Skills zu hören, manchmal leiten sie uns aber auch in die Irre (was im schlimmsten Falle im ungewollten Selbstmord endet. Looking at you, »Autorität«). Allerdings gestaltet sich Disco Elysium durch diese ausufernden (aber absolut duften, geradezu poetischen) Dialoge und durch den redsamen Erzähler auch extrem textlastig. Zwar erhielt das Game im Zuge des Final Cuts nun eine Vollvertonung, aber die Übersetzung gilt es (für Ungeübte) dennoch zu lesen und das kann für manche dann doch »ein bisschen zu viel sein«, gerade zu Beginn, da es einiges an Konzentration einfordert.
Würfel sind die Welt …
Disco Elysium ist als RPG dahingehend bemerkenswert, da es seiner RPG-Natur übermäßig treu bleibt. Es ehrt die ursprünglichen Wurzeln (das Pen-&-Paper) indem es 1.) einen Erzähler bereitstellt und 2.) die sogenannten »Skillchecks« tatsächlich auswürfelt. Kurz erklärt: »Skillchecks« ermitteln, ob eine Fertigkeit für eine bestimmte Aufgabe ausreichend »geskillt« wurde. Überwiegend handelt es sich dabei um »passive Skillchecks«, die im Hintergrund ablaufen und darüber entscheiden, welches unserer redseligen Attribute in welchem Moment zu uns spricht. Das heißt, dass unsere Wahrnehmung der Welt hochgradig davon abhängt, welche Attribute wir hochleveln. Auf die »aktiven Skillcheks« wiederum können wir uns bewusst vorbereiten, indem wir die Skills mit Kleidung oder Drogen buffen und vorher Quests erledigen, von denen man nie erwartet hätte, dass sie in Relation zu diesem Check stehen könnten. Doch auch wenn die Siegchancen bei 82% liegen, können wir immer noch eine Klatsche würfeln – das liegt halt in der statistischen Natur der Sache. Kein wildes Rumgebashe auf Knöppe kann da helfen; unser Schicksal liegt allein in Fortunas Händen. Das macht Disco Elysium so wahnsinnig spannend, denn jeder rote Skillcheck (rot = nicht wiederholbar) kann zu einem völlig anderen Verlauf der Geschichte führen. Hinter manchen verbergen sich sogar essentielle Momente, die einen Handlungsbogen unerwartet wieder aufgreifen und auf neue Art und Weise abschließen.
… und die Welt ist unfassbar
Disco Elysium spielt in einer seltsamen Welt, die sich von einer schweren Revolution erholt. Sie ist geprägt von einer alternativen technischen Entwicklung, die man sowohl retro als auch futuristisch bezeichnen kann. Das Spiel verfügt über ein ausgefeiltes Weltenkonstrukt, das bis zu 2,6 Billionen Jahre in die Vergangenheit zurückreicht und so überbordend und schwer zu greifen ist als wäre es von China Miéville selbst geschrieben. Es gibt etliche spannende Charaktere wie Kim Kitsuragi, Titus, Cuno und Klassje, die erkundet werden wollen. Die Ästhetik erinnert an ein altes Ölgemälde und spiegelt mit seiner künstlerischen Unordnung auch irgendwie das Chaos in Harry wieder, während der Soundtrack der britischen Band Sea Power die Melancholie von Martinaise und der ganzen Welt einfängt. Eine Welt, in der wir uns vorsichtig zwischen Faschisten, Kommunisten, Ultraliberalisten und Royalisten bewegen und dabei selbst ein politisches Wesen formen, welches letztendlich zu einer einzigartigen Quest führt. Dank des Final Cuts gibt es dieses kulturell-politische Chop Suey nun auch voll vertont mit etlichen Sprechern und Dialekten. Die Welt ist offen, die Quests können in wilder Reihenfolge erledigt werden, was zu leichten bis extremen Veränderungen führt. Ja, man kann Disco Elysium sogar beenden ohne jemals die Leiche untersucht zu haben. Die Weitsicht der Entwickler und ihr Überblick über alle Eventualitäten sind bemerkenswert und führt zu einem hohen Wiederspielwert (Selbst nach 80 Stunden Spielzeit trifft man immer noch auf neue Charaktere und Dialoge). Diese Eventualitäten machen das Ende auch so wunderbar offen. Hat man versäumt, das »Grau« zu erkunden, dann bleibt das fatalistische Feeling fern. Hat man »Schauder« hochgeskillt, bekommt das Ende eine neue Drehung dazu. Doch auch wenn der Mordfall gelöst wird, bleiben lose Fäden über; eine ungewisse Zukunft für die Protagonisten und Martinaise bleibt bestehen. Das Ende wirkt sogar nahezu anti-klimatisch, aber mit seiner Mischung aus Nihilismus und Hoffnung auch wieder irgendwie genau richtig. Man hat es nicht kommen sehen – und vielleicht ist genau das der Punkt.
Fazit
Disco Elysium ist ein fantastisches Game – das beste Buch, das ich je gespielt habe – aber eben nicht für jeden geeignet. Es ist eine fein ausbalancierte Mischung aus Spielerfreiheiten, Politik, bestechenden Charakteren (KIM!!), Würfelspannung, faszinierenden Einfällen (SPRECHENDE SKILLS, BESTE!!), unfassbar witzigem Humor und berührender Melancholie – ganz abgesehen von dem schäbigen Mord, der zwar den Anfang und das Ende der Erzählung markiert, nicht aber unbedingt das Herzstück. Das Game dreht sich vielmehr um Harry. Wir wissen nichts von ihm. Verdammt, zu Beginn haben wir nicht einmal seine beiden Schuhe. Je länger das Spiel dauert, desto mehr quillt das Questbuch über vor Nebenaufträgen. Man verliert den Fokus und ist irgendwann mehr daran interessiert, mit Kim Brettspiele zu spielen und Punks ihre »Pissschw*****l«-Jacken abzunehmen, als die Leiche vom Baum zu holen. Disco Elysium als solches ist viel mystischer als das Hauptmysterium an sich – und ich liebe es.
© ZA/UM