Grandia

“Das Ende der Welt ist gefunden. Wer braucht jetzt noch Abenteurer?” Das ist die Nachricht, welche die Entwickler Game Arts auf den Kontinenten von Grandia erschallen lassen, aber Protagonist Justin will davon nichts wissen und träumt von der Ferne. Zum ersten Mal begibt er sich 1997 in Japan auf dem Sega Saturn auf seine Reise, bis er schließlich drei Jahre später auf der ersten Playstation auch in Europa unermüdlich in die Welt hinauszieht. Grandia ist dabei der erste Teil einer gleichnamigen JRPG-Reihe, die zwei weitere Hauptitel (Grandia 2 und Grandia 3), einige Spin-offs und ein MMORPG hervorbrachte, das allerdings 2012 eingestellt wurde. Im Oktober 2019 verschaffte Publisher GungHo Online dem nimmermüden Rotschopf erneut die Möglichkeit, in einer Remastered-Version die Geheimnisse seiner Welt zu erkunden, was er sich selbstverständlich nicht entgehen ließ. So vieles wartet doch darauf, entdeckt zu werden. Und zu dem Ende der Welt: Wollt ihr nicht sehen, ob es seinem Namen gerecht wird? Das Abenteuer ruft und es ist eines, das man nicht vergessen wird.

   

In der kleinen Stadt Parm gibt es nicht viel zu tun. Niemand weiß das besser als Justin, der hitzköpfige und nach der großen weiten Welt dürstende Sohn eines berühmten Abenteurers, der seinen Spross aber nicht hat aufwachsen sehen kann. Der vor Tatendrang sprühende Rotschopf lebt alleine mit seiner Mutter, die ein Café betreibt und sowohl mit Tablett als auch Nudelholz bewandert ist, was Justin oft am eigenen Leib zu spüren bekommt. Denn der aufgeweckte Jungspund vertreibt seine Zeit mit der Suche nach Abenteurern unter tatkräftiger Mithilfe von Freundin Sue, die ihn aber immer wieder Ärger einhandeln. Es ist ihm schlicht nicht möglich, die Füße still zu halten und er träumt davon, wie sein Vater neue Wunder zu entdecken, stets auf Wanderschaft begriffen zu sein. Als er sich eines Tages in eine Minenoperation der Garlyle-Armee einschleicht, klopft das Schicksal vehement an die Tür. In einer verborgenen Kammer wird ihm von einem blendenden Licht die Aufgabe erteilt, den Geisterstein – ein Kleinod, das ihm sein Vater hinterlassen hat – nach Alent zu bringen. Einem mystischen, sagenumwobenen Reich. Selbstverständlich zögert er keine Sekunde und sein erstes echtes und wohl größtes Abenteuer nimmt seinen Lauf.

JRPG mit Leib und Seele

Originaltitel Grandia
Jahr 1997 (D: 2000)
Plattform Sega Saturn, Playstation 1, PC, Nintendo Switch (Remastered-Version)
Genre JRPG
Entwickler Game Arts
Publisher Ubisoft; GungHo Online (Remastered-Version)
Spieler 1
USK

Wer für einen Moment Zweifel hatte, dürfte spätestens bei der Inhaltsangabe verstehen, dass Grandia ein JRPG in Reinformat ist. Ein hitzköpfiger Tausendsassa (der von höheren Mächten auserkoren wird), ein mächtiges Artefakt, eine finstere Armee mit dubiosen Zielen; bereits jetzt dürfte jemand beim JRPG-Trope-Bingo jubelnd aufgeschrien haben und dabei waren wir noch nicht einmal bei der mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann anstehenden Weltrettung. Ungewöhnlich oder besonders originell ist die Handlung nicht, aber es ist eine dieser Geschichten, die unter Beweis stellt, dass es nicht immer auf das Was, sondern maßgeblich auf das Wie ankommt. Denn Grandia erzählt seine Geschichte von Anfang bis Ende mit literweise Herzblut. Ernsthaft und humorvoll, verspielt und seriös; eine phantastische Reise voller liebevoller Momente, dramatischer Paukenschläge und einem epischen Finale. Wer sich auf die Geschichte von Grandia einlässt, wird nicht enttäuscht. Es ist ein wundervolles Abenteuer, das zeigt, wie großartig die JRPGs der ganz alten Schule sein konnten.

Alt, aber nicht veraltet …

Aber auch wenn es 20 Jahre her sein mag, dass der erste Teil der Reihe das Licht der Welt blickte, sollte man nicht denken, dass die Spielmechaniken meterdick mit Staub bedeckt wären. Faktisch hat Grandia ein außerordentlich gut geschmiertes Kampfsystem, von dem sich selbst heutige JRPGs mitunter eine Scheibe abschneiden könnten. Das Hauen und Stechen (und Feuerbälle werfen) läuft wie folgt ab: Nachdem man einen der sich auf der Karte herumwuselnden Feinde genähert hat, schafft man es entweder unbemerkt in seinen Rücken zu laufen und so den Kampf mit einem Vorteil zu starten oder verduselt es, weil man ein anderes Monsterchen übersehen hat, das einem sogleich freudig demonstriert, wie man das richtig macht. So weit, so Standard. Der Unterschied liegt darin, dass es nicht streng genommen rundenbasiert abläuft. Jeder Charakter der eigenen Gruppe und jeder Gegner (bzw. Gegnerteil, denn anscheinend hat selbst der billige Bumerang eines Bosses oder sein rechtes Ohrläppchen seine ganz eigene Agenda) starten auf einer Leiste. Auf der bewegen sie sich bis zu einem gewissen Punkt fort, dort angekommen kann eine Aktion ausgewählt werden, sei es die Kontrahenten mit Schlägen zu malträtieren, sei es Zauber loszulassen, Items einzusetzen, zu verteidigen oder sich auf dem Schlachtfeld zu bewegen. Während bei simplen Angriffen nun der Charakter sich sofort daran macht, die angegebene Klopperei umzusetzen, benötigen heftigere Attacken und Zauber eine gewisse Zeit, bis sie das Ende der Leiste erreicht haben und ausgeführt werden. Für die Gegner gilt das Gleiche, was jeweils die Möglichkeit bietet, das angedachte mächtige Badaboom zu verhindern. Viele Attacken haben zudem einen gewissen Trefferbereich und viele Nahkampfangriffe verlangen zumindest, dass sich der Charakter auch zu seinem Schwert-Axt-Knüppel-Opfer bemüht. All das führt dazu, dass die Kämpfe eine erstaunliche Dynamik entwickeln ohne jemals in Chaos zu enden, da man sich bei der Eingabe der jeweiligen Befehle soviel Zeit lassen kann, wie man möchte. Es ist eine äußerst interessante Herangehensweise an klassisch-rundenbasierte JRPGs und ließe sich mit den Kampfsystem aus The Legend of Heroes: Trails of Cold Steel-Titeln vergleichen.

… jedoch nicht taufrisch

Trotz aller Liebe zum Kampfsystem kann man nicht verhehlen, dass es auch in der HD-Version in Punkto Grafik zurückstecken muss, was sich gerade an den schwammigen Kampfarena-Hintergründen und generellen Texturen in der Welt zeigt. Das sollte allerdings nicht sonderlich überraschen, es stammt letztlich aus der PlayStation 1-Zeit. Tatsächlich können aber gerade die eigenen Charaktermodelle und die der Gegner noch immer überzeugen (insofern man wohlwollend gegenüber älterer Grafik eingestellt ist). Sie sind erstaunlich detailliert und keineswegs in Pixeligkeit verwaschen. Die Skill- und Magieeffekte waren sicherlich auch zu anderen Zeiten beeindruckender, aber die Schwere der Angriffe wird trotzdem gut transportiert. Gerade die Treffersounds sind sehr satt, nur bei den Laufgeräuschen der Charaktere auf dem Schlachtfeld klingt es manchmal, als wäre ein Pirat mit zwei Holzbeinen über einen Steg zu Tode gehetzt worden. Technische Einbußen müssen insgesamt in Kauf genommen werden, aber es ist weit davon entfernt, verschwommener Pixel-Masch zu sein.

Eier, wir brauchen Eier!

Etwas ärgerlich könnten dagegen manche Eigenheiten bei der Weiterentwicklung der Charaktere sein. Justin und co. sind alle in der Lage gewisse, meist für sie einzigartige, Waffen zu benutzen, die in erneut einzigartigen Skills resultieren. Bei der Magie sieht es anders aus. Hier kann es zu Überschneidungen kommen und nicht alle Figuren sind direkt mit Zauberstab auf die Welt gekommen. Um mit Feuer, Wasser, Wind und Erde herumspielen zu dürfen, müssen zunächst Mana-Eier in der Welt gefunden werden und dann (eventuell als Rührei) an einen Charakter verfüttert werden. Im Austausch bekommt er ein Element nach Wahl freigeschaltet. Das Aufleveln sowohl der Magie als auch der Waffenfertigkeiten geht streng nach dem Motto Learning by doing. Wer also viel mit einem Schwert herumfuchtelt, erhöht das Schwertlevel und schaltet neue Skills frei. Gerade bei der Magie sind die Anfangsfähigkeiten aber arg limitiert und bei weitem nicht alle nützlich. Meist ist Angriff Trumpf, Heilung nett und alles, was mit Zuständen zu tun hat nur ein ‘Vielleicht später’ wert. Um also an effektivere Magie zu kommen, muss man viele Kämpfe vor sich hinzaubern, während der eine verwahrloste Gegner, der am Leben gelassen wurde, wiederholt hüstelnd fragt, wann denn hier Feierabend ist. Anderorts fühlt man sich vielleicht genötigt, freiwillig durch Säureregen zu turnen, um die eigenen Heilungsfähigkeiten auf die Probe zu stellen und zu verbessern.

Neue und alte Bekannte

Das Aufleveln der Figuren lohnt sich allerdings, denn jeder Charakter hat ein erstaunliches Arsenal an Krach-Bumm, mit denen sich die Gegner (mitunter wortwörtlich) wegpusten lassen. Selbstverständlich sind die Figuren nicht einfach nur bunte Waffenträger mit Magieaufklebern. Justin und Sue treffen auf ihrer Reise viele interessante, gefährliche, witzige, verrückte und geheimnisvolle Gesellen, die sich ihnen teils in den Weg stellen, teils ihrer Party anschließen, teils auch beides. Anders als in anderen JRPGs sammelt man jedoch keine gewaltige Truppe um sich herum, sondern ist immer mit einem festen Team, das niemals vier überschreitet, unterwegs, was sich jeweils an der Geschichte bemisst. Das ist zwar zum einen schade, da man so eventuell einen lieb gewonnenen Kumpan nicht bis zum bitteren Ende dabei haben kann, auf der anderen Seite bekommen die Figuren dadurch mehr Eigenständigkeit. Abschiede sowie neue Begegnungen haben weit mehr Bedeutung, da sie eben nicht auf Abruf bereitstehen. Jeder trägt seinen Teil zur Geschichte bei, muss dann aber letztlich die Bühne verlassen, um anderen Platz zu machen. Das Kommen und Gehen ist dabei nicht so rege, wie es möglicherweise anklingen mag. Neben Justin und Sue gibt es sechs weitere Partymitglieder, mit denen man sich die nächtlichen Camping-Lager teilt, redet und lacht. Jeder von ihnen hat Bedeutung.

Abenteuer im Blut

Genau wie die Reise selbst, ist das Abenteuer. Das Spiel schafft es, einem dieses Gefühl zu geben, sich auf eine große Reise aufzumachen. Die Motivation ist kein niedergebranntes Dorf, keine geschworene Rache. Sie ist maßgeblich Justins Wunsch, in die Welt hinauszuziehen, diese zu sehen, zu erleben und letztlich natürlich Alent zu finden. Aber die Zwischenstationen, die die Gruppe macht, die Dörfer, die sie besuchen, die Leute, die sie treffen, fühlen sich nicht wie eine Nebenbeschäftigung oder Ablenkung vom eigentlichen Ziel an. Denn das Ziel ist ja das Abenteuer selbst. Jeder neu besuchte Ort, jede Gefahr, der man strotzt; stets ist man gespannt, was einen um die nächste Biegung erwartet. Und wenn es sich dann zuspitzt, wenn immer mehr auf dem Spiel steht, findet man mit Justin gemeinsam ein Ziel, auf das man hinarbeitet und es fühlt sich großartig und verdient an. All das wird von einem Soundtrack begleitet, der seinesgleichen sucht. Noriyuki Iwadare (Phoenix Wright: Dual Destinies) hat das Spiel mit seinen Stücken verziert und bereits das Menü-Theme schafft es, etliche Emotionen abzudecken.

Fazit

Es ist mir absolut unmöglich in Bezug auf Grandia auch nur einen Hauch objektiv zu bleiben; es war mein allererstes JRPG, das ich jemals gespielt habe und eines meiner ersten Spiele auf der Playstation. Ich habe es damals geliebt, ich liebe es heute und während ich den Artikel geschrieben habe, sind etliche Emotionen wieder hochgekommen und bei den Göttern, ich werde es vermutlich bald zum sechsten oder siebten Mal angehen müssen. Die rosarote Nostalgie-Brille mag daher an meinen Augen festgewachsen sein, aber ich bin vollkommen davon überzeugt, dass jeder, der sich für JRPGs interessiert, diesem Titel eine Chance geben sollte. Ja, es ist älter und ja, wie ich vernommen habe, ist die Remastered-Version nicht ganz das geworden, was man sich gewünscht hat, aber es ist ein maßgebliches Spiel meiner Kindheit. Die Geschichte, die Charaktere, die Musik … Großartig. Aus heutiger Sicht wirkt die Handlung vermutlich recht genretypisch, aber als kleiner Mort war ich vollkommen überwältigt (und bin es heute immer noch). Ich weiß noch, wie oft ich an den Bossen verzweifelt bin, weil ich noch nicht alle Systeme richtig verstanden hatte und an einem Punkt einen wichtigen Hinweis überlesen hatte. Der wies nämlich daraufhin, dass das betretene Gebiet sowie der Endboss darin rein optional war. Ein ziemlich entscheidender Tipp könnte man meinen, der mir vollkommen entgangen gewesen sein muss und daraufhin eine Tortur epischen Ausmaßes entstand. Ich will nicht wissen, wie oft ich versucht habe, diesen elenden Mistkerl zu besiegen, der dort in seinem Geisterschloss herumturnte, aber der entscheidende Versuch war ein Epos, das seinesgleichen sucht. … Okay, ich übertreibe und schweife ab, also zum Ende: Grandia ist etwas ganz Besonderes für mich. Es ist das, woran ich denke, wenn ich das Wort ‘Abenteuer’ höre und ich bin sehr froh, diese Reise mit Justin und all den anderen gemacht zu haben. Bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.

© Ubisoft

Mort

Mort hat 'Wie? Nicht auf Lehramt!?' studiert und wühlt sich mit trüffelschweiniger Begeisterung durch alle Arten von Geschichten. Animes, Mangas, Bücher, Filme, Serien, nichts wird verschmäht und zu allem Überfluss schreibt er auch noch gerne selbst. Meist zuviel. Er findet es außerdem seltsam von sich in der dritten Person zu reden und hat die Neigung, vollkommen überflüssige Informationen in sein Profil zu schreiben. Mag keine Oliven.

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