Papers, Please
Bislang können nur wenige Spieleentwickler von sich behaupten, den Main Award des Independent Games Festivals ganze zwei Mal abgeräumt zu haben. Zu jener Eliteklasse gehört auch Lucas Pope, der zuletzt 2019 mit Return of the Obra Dinn, diesem „Versicherungsabenteuer in minimaler Farbe“, die Jury überzeugen konnte. Fünf Jahre zuvor gelang ihm das bereits mit seinem Debüt-Game (und gleichzeitigem Smash-Hit) Papers, Please, dem einzig wahren „dystopischen Dokumenten-Thriller“. Eine Kontrolleur-Simulation, in der – wenn man nicht aufpasst – das Böse zur Routine wird.
Du bist Bürger von Arstotzka, eines kommunistischen Staates, der just seinen sechsjährigen Krieg mit dem Nachbarland Kolechia beendet hat. Die Arbeitslotterie hat bei der Vergabe des Jobs als Grenzkontrolleur deinen Namen ausgespuckt. Nun sitzt du in einem miefigen Kabäuschen und sollst den endlosen Strom von Menschen kontrollieren, die in das Land einreisen, denn überall könnten sich Parasiten, Schmuggler und Selbstmordattentäter befinden (so die Propaganda). Du überprüfst Papiere und entscheidest über das Schicksal der Menschen. Dass dazwischen auch die Schicksale einzelner Unschuldiger zerstört werden, liegt auf der Hand, aber du machst nur deinen Job. Papers, Please ist eine Mischung aus Detektiv- bzw. Wimmelbildspiel und Schicksalsschlägen. Bleib stark, halte die Formalitäten ein und lass dich von der Trostlosigkeit nicht wegspülen. Es lebe Arstotzka.
Der Nächste bitte …
Originaltitel | Papers, Please |
Jahr | 2013 |
Plattform | Microsoft Windows, OS X, Linux, iOS, PlayStation Vita |
Genre | Puzzle, Simulation |
Entwickler | 3909 LLC |
Publisher | 3909 LLC |
Der Arbeitstag als Grenzkontrolleur ist streng getaktet, beginnt in aller Herrgottsfrühe um 6 Uhr und endet um Punkt 18 Uhr. Man sitzt in seinem Kabäuschen, stiert auf das Familienfoto an der Wand (das bei Inspizierungen schnell herunter genommen werden muss) und auf die pixelige Schlange Einreisewilliger draußen vor der Tür. „NÄCHSTER!“ Ein Häuflein Elend kommt herein und händigt seine Papiere aus. Zu Beginn von Papers, Please ist die Aufgabe noch easypeasy: Nur Arstotzkarer dürfen hinein. Späterhin aber auch Ausländer, allerdings nur wenn die Unterlagen stimmen. Und spätestens dann wird‘s komplex, da neben neuen Einreiseregeln auch neue Werkzeuge der Überprüfung dazu kommen. Dem entgegen arbeitet die begrenzte Schreibtischfläche, über die man verfügt. Dokumente stapeln sich, die Übersicht geht flöten, wichtige Informationen müssen erst in Anleitungen nachgeschlagen werden – all das geht auf die Zeit und das ist schlecht, denn Geld gibt‘s nur pro (korrekt) abgewickelten Fall.
Korinthenkacker in Perfektion
Man beginnt also, nach Effizienz zu streben, das Prozedere aufzusaugen und so viel wie möglich aus dem Effeff zu können. Das Passfoto passt nicht zu dem traurigen Elend, das vor einem steht? Überprüfung der Fingerabdrücke. Das Elend hat ein paar Kilo mehr auf den Rippen als angegeben? Ab in den Scanner, um eventuell Schmugglerware zu finden. Reisemotivation weicht ab? Verhören. Und wenn auch der letzte Erklärungsversuch des Einreisenden unbefriedigend ausfällt, gibt‘s den absoluten Kick: Man darf mit seinem roten, fetten, potenten „ABGELEHNT!“-Stempel den Typen/die Typin rausschmeißen. Oh ja, man wird zum perfekten Schreibtischtäter.
Nur die Harten kommen in den Garten
Als Rätselspiel macht Papers, Please Spaß. Man versinkt in seinem miserablen Beruf und verspürt geradezu einen grimmigen Nervenkitzel, der das Auffinden von Diskrepanzen zur Droge werden lässt. Manchmal scheint man als Staatsdrohne in einer endlosen, monotonen Schleife festzustecken, doch immer rechtzeitig führt das Spiel einen neues Element ein oder überrascht mit einem Sprung in der Story. Im weiteren Verlauf wird das Ganze sogar noch komplizierter, weil sich ausländische Bedrohungen auftun und sogar inländisch etwas im Argen liegt. Wer dem nicht standhält, dessen Spiel endet vielleicht schon am fünften Tag. Die richtig Guten aber ziehen durch bis zum 31. Tag. Insgesamt gibt es in Papers, Please 20 Enden zu erreichen.
Wer zählt mehr?
Papers, Please ist mehr als ein einfaches Detektivspiel. Es ist auch ein moralisches Spiel. Trennt man ein Ehepaar, nur weil auf seinem Pass „Phillipp“ und nicht „Philipp“ steht? Verhindert man die Einreise eines Zuhälters, von dem klar ist, dass er Mädchen auf den Strich befördern wird? Und was ist mit der Frau mit abgelaufenem Visum, die getötet wird, wenn man sie zurückschickt? Der innere Kompass weiß die Antwort, aber jede mutwillig „falsche“ Entscheidung kostet fünf Credits Strafe, die dann zu Hause fehlen. Und so muss jede Schicksalsgeschichte im Kabäuschen gegen die eigene kränkelnde Familie abgewogen werden, die zu Hause vielleicht gerade verhungert, weil man am gestrigen Arbeitstag zu viele Fehler gemacht hat.
Eine Randnotiz für Interessierte
Es ist gar nicht lange her, da feierte Papers, Please eine Art von Comeback, als nämlich im Jahre 2018 die russischen Filmemacher Liliya Tkach und Nikita Ordynskiy aus dem Hause Kinodom Production in Zusammenarbeit mit Lucas Pope das Spiel in einen zehnminütigen Kurzfilm verwandelt haben. Der Film ist eine liebevolle Hommage, in der man auf die vertrauten Stempel trifft und diverse andere Easter Eggs finden kann. Auch der spezifische Aspekt der Dokumentenüberprüfung wird auf eine kreative Weise filmisch umgesetzt. Es gibt zwar insgesamt nur zwei Einstellungen (vor und in dem Kabäuschen), dennoch schaut das Ganze kinematographisch doch sehr schmuck aus (nicht zuletzt wegen des Cinemascope-Formats) und greift die moralischen Herzstücke aus dem Spiel auf. Tkach und Ordynskiy haben neben Papers, Please auch ein weiteres dystopisches Indie-Game verfilmt: Beholder.
Fazit
Papers, Please schraubt das Ego des Spielers herunter, denn man ist nur ein winziges schmieriges Zahnrädchen in einem riesigen totalitären System. Man setzt als Kontrolleur auf die Hoffnungen von Flüchtlingen, Einreisenden und Gastarbeitern um die eigene Familie durchzubekommen. Ja, man ist das Gegenteil des typischen Videospiel-Helden – nämlich eine Staatsdrohne, die sich im Papierwust verliert. Dokumente sichten, Regelwerke konsultieren, versuchen eine gescheite Ordnung zu entwickeln. Langeweile? Vielleicht, aber diese Langeweile ist der Schlüssel zum Spiel. Lo-Fi-Grafik und der Fokus auf Papierkram sind das was das Spiel ausmacht. Sicherlich nicht für jeden etwas, aber dennoch kann man froh sein, dass solche ungewöhnlichen und gleichsam interessanten Themen in der lebendigen Indie-Szene erfolgreich umgesetzt werden.
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