Tell Me Why

Mit zwei Teilen Life is Strange (oder auch drei, wenn man Life is Strange: Before the Storm berücksichtigt) hat der Spielentwickler Dontnod bereits unter Beweis gestellt, dass richtige Gespür für nahbare Charaktere und gute Stories zu haben. Mit Tell Me Why, das in drei Episoden zwischen August und September 2020 exklusiv für Microsofts Xbox One und PC erschien, steuert das französische Studio eine neue Marke an. Schon im Vorfeld machte der Titel auf sich aufmerksam, denn der Protagonist Tyler Ronan ist der erste spielbare Transgender-Charakter abseits des Indie-Markts. Um die authentische Darstellung einer Trans-Erfahrung gewährleisten zu können, arbeitete man für das Drehbuch mit GLAAD (Gay and Lesbian Alliance Against Defamation) zusammen. Nach Remember Me ist Tell Me Why das erste Spiel von Dontnod Entertainment in sieben Jahren, das neben einer englischen Synchronisation auch weitere Synchronfassungen erhält: Französisch, Deutsch, Spanisch und Portugiesisch.

 

Alaska im Jahr 2015: Nachdem ihre Mutter Mary-Anne bei einem tragischen Vorfall ums Leben kam, brach die Welt für die Geschwister Tyler und Alyson zusammen. Tyler wurde in eine Besserungsanstalt gesteckt. In dieser Zeit wurde sie von einem verschüchterten Mädchen zu einem selbstbewussten jungen Mann, der zu sich gefunden hat. Alyson blieb in Delos Crossing unter der Obhut des Polizeichefs. Nach zehn Jahren treffen die beiden wieder aufeinander. Nicht nur, dass Tyler sich vollkommen verändert hat, es gibt auch einen konkreten Anlass für die Rückkehr. Beide planen das alte Haus zu verkaufen und den Erlös in einen Neustart zu stecken. Doch ihre Vergangenheit holt sie nach und nach ein. Beide haben sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt und müssen wieder zueinander finden. Außerdem werfen die Todesumstände ihrer Mutter plötzlich neue Fragen auf. Hat ihre Mutter gar nicht versucht, Tyler zu töten, weil er Transgender ist?

Bruder und Schwester mit komplexer Familiengeschichte

Originaltitel Tell Me Why
Jahr 2020
Plattform PC, Xbox One
Genre Adventure
Entwickler Dontnod Entertainment
Publisher Xbox Game Studios
Spieler 1
USK
Veröffentlichung: 10. September 2020

Wissen wir sicher, was in der Vergangenheit passiert ist? Oder halten wir einfach an unserer persönlichen Version einer Erinnerung fest, auch wenn diese vielleicht nicht stimmt? Dies ist die Kernfrage, der Tell Me Why in seinen drei Episoden nachgeht. Pro Folge ist mit einer Spielzeit von drei bis vier Stunden zu rechnen, was eine Gesamtspielzeit von neun bis zwölf Stunden ergibt; je nachdem, wie ausführlich sich Spieler*innen mit der Umgebung und den Charakteren befassen. Wie schon in Life is Strange steht die Erzählqualität an oberster Stelle. Dazu gehören glaubhafte Dialoge und spannende Gesprächsoptionen sowie einige gelungene Charaktere. Insbesondere Alyson und Tyler sind gut geschriebene Figuren mit komplexen Hintergrundgeschichten. Man hört ihnen sowohl beim Smalltalk als auch in existenziellen Gesprächen gerne zu. Die Beziehung der beiden Geschwister ist auch das, was über die Episoden hinweg stetig entwickelt wird. Wie sie am Ende der Geschichte zueinander stehen, obliegt den Spielenden. Auch wenn der Einfluss auf die Grundhandlung gering ist. Optionale Gespräche oder kleine Veränderungen sind zunächst die einzigen Folgen getroffener Entscheidungen. Bis sie tatsächlich eine Auswirkung auf die Story haben, vergeht ein wenig Zeit. Ein kleines Symbol weist dann darauf hin, inwiefern eine Entwicklung das Verhältnis der Geschwister beeinflusst. Am Ende jeder Episode gibt es außerdem eine Zusammenfassung, wie die jeweilige Wahl andere Personen beeinflusst hat und wie die restliche Spielerschaft entschieden hat. Wer seine Entscheidung revidieren will, kann ein Kapitel herauspicken und nochmal spielen.

Transsexualität in Games – unerforschtes Terrain

Besondere Aufmerksamkeit erhielt das Spiel mit Tyler. Transmenschen sind weiterhin in Medien unterrepräsentiert und geben vielen Menschen Fragezeichen auf. Vielleicht, weil Erfahrungswerte fehlen oder Verwechslung mit sexuellen Vorlieben stattfindet. Vor diesem Hintergrund wird Tell Me Why eine ganz besondere Verantwortung zuteil. Denn nun schlüpfen Spieler in einen Trans-Protagonisten. Dies hätte auch leicht daneben gehen können, immerhin birgt vor allem Unwissenheit Gefahren und Tyler hätte leicht in eine Stereotypisierung abrutschen können. Hier hat die Zusammenarbeit mit der GLAAD gefruchtet, denn Tyler ist eine stimmig erzählte Figur, deren sexuelle Identität auch Teil der Handlung ist, aber eben nie im Vordergrund steht. Eine Erkenntnis, die vielen Menschen ohne Berührungspunkte neu sein wird, denn Transmensch zu sein, bedeutet nicht, sich nicht auch mit anderen Themen befassen zu können.

Stolperstein Pacing

Worin Tell Me Why kränkelt, ist das eigene Pacing. Die drei Episoden sind ungleich stark erzählt. Während die erste besonders viel Zeit für die Exposition nehmen muss, aber gegen Ende dann an Fahrt gewinnt, bremst der zweite Teil die Entwicklungen wieder aus. Die Herausforderung für ein klassisches Mittelstück besteht stehts darin, Anfang und Ende zu verknüpfen, gleichzeitig aber auch den Löwenanteil der Erzählung zu stemmen. Das funktioniert hier zum Großteil sehr langsam und fängt sich erst in der Mitte der dritten Folge wieder. Alle drei Folgen halten sich teilweise mit Belanglosigkeiten auf, die für Spieler*innen mit Hang zu Entdeckungen wertvolle Details darstellen, andere Spieler maßlos langweilen werden. Was dann umso stärker schmerzt, weil die emotionalen Wendungen – gerne auch mal innerhalb eines Gesprächs – in vielen Fällen aus dem Nichts kommen. Das schnelle Erzeugen einer Dramatik, die aus Perspektive eines Außenstehenden nicht immer nachvollziehbar ist und zum Teil sogar gekünstelt wirkt.

Gameplay? Bedingt.

Tell Me Why ist wie seine geistigen Vorgänger kein Titel, den man aufgrund herausragender Gameplay-Elemente spielt. Besondere Mechaniken existieren nicht und im Kern bleibt der Titel trotz aller Dialog-Optionen ein Third-Person-Adventure ohne die Möglichkeiten, die Charaktere springen oder laufen zu lassen. Soziale Interaktion ist hierbei das Stichwort, denn die Reaktionen auf die Umwelt, das Führen von Gesprächen und Einholen weiterführender Informationen bilden einmal mehr das Herzstück. Ein Punkt muss allerdings dann doch hervorgehoben werden: Ähnlich wie in Life is Strange besitzen die Protagonisten besondere Kräfte. Hier ist es nicht das Zeitreisen, sondern Telepathie, über welche Tyler und Alyson ihre Gedanken miteinander teilen können. Das ermöglicht ihnen auch, Erkenntnisse über die Vergangenheit zu erlangen. Die Erinnerungen unterscheiden sich aufgrund der Perspektive allerdings, sodass die finale Entscheidung, welche Erinnerung nun die richtige ist, vor dem Bildschirm getroffen werden muss. Diese Mechanik rund um Erinnerungen ist grundliegend interessant gestaltet, wird aber manchmal zu inflationär genutzt, so dass sich der Effekt mit der Zeit abnutzt. Der Vollständigkeit halber seien noch die InGame-Puzzles erwähnt, die häufig mit dem “Buch der Goblins” zu tun haben. Dabei handelt es sich um ein Geschichtenbuch von Mary-Anne, in dem sich oftmals Antworten auf Fragen verbergen.

Technisch durchwachsen

Im direkten Vergleich mit Life is Strange hat sich nach dessen Erscheinen 2015 eine Menge getan. Figuren und Umgebung sind realistisch dargestellt, ohne aber Anspruch auf Fotorealismus zu erheben. Dank Unreal Engine können liebevoll gestaltete Umgebungen erschaffen werden, die mit vielen Details aufwarten. Die einzelnen Locations laden zum Verweilen ein und sorgen trotz der manchmal düsteren Stimmung für einen Wohlfühlfaktor. Die Mimik der Figuren ist dagegen weniger detailiert und kann große Emotionen nur bedingt transportieren. Viel störender sind aber nervige Grafikfehler: Texturen, die nach einem Szenenwechsel Sprünge in der Auflösung machen sowie Polygonabgrenzungen. Da Alyson ihre Haare offen trägt, ergeben sich auch aus deren Animation oftmals Ungereimtheiten.

Fazit

Tell Me Why entzückt mit gut geschriebenen und sorgfältig ausgearbeiteten Figuren. Insbesondere die Gestaltung von Tyler ist außerordentlich gelungen und authentisch aufbereitet. Ansonsten bleibt die Devise wie schon bei Life is Strange: Man muss Geschichten über Gameplay stellen können, um diesen Titel zu genießen. Längere Dialoge sollten keinen Störfaktor darstellen und Erkundungen keine quälende Langeweile erzeugen. Dann kann man mit dieser Charakterstudie durchaus viel Spaß haben. Trotz allem bleibt aber auch auf erzählerischer Ebene Luft nach oben. Das Erzähltempo ist unausgegoren; es fehlen die großen Highlights und am Ende ist der Weg das Ziel. Langatmigkeit, die hätte vermieden werden können, wenn alle drei Episoden zu gleichen Anteilen den atmosphärisch gedachten Leerlauf und die erzählerische Dramatik in den Fokus gerückt hätten. Kann man über diese Punkte hinwegsehen, ist Dontnod ein weiteres emotionales Spiel gelungen, dessen Wiederspielwert nur nicht ganz so hoch wie bei den geistigen Vorgängern ausfällt.

© Xbox Game Studios


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Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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Ayla
Redakteur
26. September 2020 20:33

Toller Artikel! Ich ärgere mich immer noch, dass es das Game nicht auch auf der PS4 (oder Switch, aber da gab es ja auch noch keinen Life Is Strange-Teil) gibt, denn es wirkt sehr interessant. Da ich die Life Is Strange-Games alle sehr mag, hätte ich dieses auch gerne gespielt, aber man kann halt nicht alles haben.