Tekkonkinkreet
Tekkonkinkreet ist eine hard-boiled (dt. hart gekochte) Geschichte über zwei Waisen, die versuchen auf den Straßen von Takara Town zu überleben. 1993 in Japan erschienen und 2008 mit dem Eisner-Award ausgezeichnet, nimmt sich im deutschen Raum nun der Verlag Cross Cult des Stoffes an und verpasst Tekkonkinkreet eine edle Gesamtausgabe mit Hardcover und Lesebändchen.
Auf den Straßen von Takara Town (dt. Schatzstadt bzw. Schatzviertel) müssen die verwaisten Brüder Shiro und Kuro stehlen, kämpfen und ständig auf der Hut sein, um zu überleben. Die Welt um sie herum besteht aus Korruption und Einsamkeit – hier machen sich Gauner, Polizisten und sadistische Yakuza gegenseitg das Leben schwer. Zu allem Überfluss treten nun auch noch windige Geschäftsmänner auf den Plan, die aus dem einstmals hübschen Takara Town einen Entertainment Park machen wollen. Shiro und Kuro gefällt das gar nicht und sie beschließen, den Kampf aufzunehmen. Werden die Brüder in der Lage sein, sich über ihr Umfeld zu erheben?
Zwei Brüder wie Tag und Nacht
Shiro (Weiß) und Kuro (Schwarz) sind die Hauptfiguren der Geschichte, auch bekannt als „die Katzen“, ein Schläger-Duo, das Takara Town vor den Yakuza (und allen anderen, die ihnen dumm kommen) verteidigt. Shiro ist ein autistischer 10-Jähriger, der eine sorglose, farbenfrohe und eher explosive Persönlichkeit besitzt und ein echter Nervbolzen sein kann. Einfältig und naiv kennt er weder Hass noch Misstrauen. Kuro ist wenige Jahre älter als Shiro und wirkt irgendwie gebeutelt durch die Pflege seines jüngeren Bruders. Er ist sehr viel introvertierter und hegt tief brodelnden Zorn gegen jeden, der ihm Takara Town streitig machen will. Bei seinen Streifzügen durch die Straßen ist er stets bewaffnet. Der Klamottenstil der beiden schaut sehr extravagant aus, beinahe so, als hätte Mangaka Taiyou Matsumoto (Ping Pong, No. 5) schon damals einen Blick in die durchgeknallte japanische Harajuku-Kultur von heute werfen können.
Exzentrische Kunst
Als „extravagant“ kann man generell den gesamten Zeichenstil von Taiyou Matsumoto bezeichnen. Im Vergleich zum gängigen Manga-Schöhnheitsideal wirkt er gewissermaßen „hässlich“. Die Figuren werden nie von ihrer Schokoladenseite gezeigt – besitzen vermutlich auch gar keine. Gesichter und Staturen wirken oft unproportional und schief, wie auch Umgebung und Architektur; es gibt kein Panel, bei dem mal ein Lineal benutzt worden wäre. Durch diese zeichnerische Wildheit kommt aber auch eine besondere Art von Dynamik und Energie ins Spiel. Das und die wirre, anarchische Architektur unterstützen das Flair von Takara Town: Es wirkt wie ein Affenhaus, das mit seiner gesetzlosen und unübersichtlichen Art einen ganz eigenen Hauptcharakter stellt, den jeder zu zähmen versucht und kläglich daran scheitert.
Originaltitel | Tekkonkinkreet |
Jahr | 1993 – 1994 |
Bände | 1 |
Genre | Action, Psychological, Science-Fiction |
Autor | Taiyou Matsumoto |
Verlag | Manga Cult (2018) |
In einem Interview mit Matsumoto von 1995, das im Webzine Tokyo Cool erschien, plaudert Matsumoto ein bisschen über seine Zeit, die er 1989 in Europa verbracht hat. Er drückt darin seine Bewunderung für französische Comic-Zeichner wie Jean Giraud, besser bekannt als Moebius (Arzach), und Enki Bilal (Legenden der Gegenwart) aus. Deren Comics könnten durchaus zu einer drastischen Veränderung seines Zeichenstils geführt haben, räumt Matsumoto ein. Und tatsächlich erinnert Moebius’ Ästhetik von Urbanismus (z.B. bei White Nightmare) an Tekkonkinkreet.
Wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein
Eines der Hauptthemen von Tekkonkinkreet ist die Veränderung des Einzelnen vor dem Hintergrund einer sich ebenfalls verändernden Stadt. Und da geht jede Figur ganz anders heran. Manche reagieren mit Gewalt, andere mit Resignation, wieder einer ist indifferent und der nächste entwickelt ein übersteigertes Selbstbewusstsein. Doch wie die Reaktion auch ausfallen mag: Gegen die Stadt kommt keiner an. Jede Figur klammert sich an ihre Vision von Takara Town, doch keiner kann die Entwicklung aufhalten – man muss sich der eigenen Machtlosigkeit bewusst werden. Die pauschale Devise scheint „Anpassung“ zu lauten, doch selbst das garantiert nicht das eigene Überleben. Manche Schicksale enden traurig.
Ohne Innen kein Außen
Ein anderer Schwerpunkt von Tekkonkinkreet ist das Prinzip des Dualismus, das von jeder Seite tropft. Manche Gegensätze gehören auf symbiotische Weise zusammen und bedingen einander – bestes Beispiel hierfür sind die Brüder Kuro und Shiro. Andere Gegensätze vertragen sich überhaupt nicht und über kurz oder lang wird einer der zwei Pole ausgelöscht.
Bunter Beton
Der Titel „Tekkonkinkreet“ ist die fehlerhafte Aussprache von „Tekkin Konkurito“, was zu Deutsch so viel wie „Stahlbeton“ bedeutet. Damit rückt wieder einmal Takara Town in den Vordergrund, da die Grundlage der Stadt, der Stahlbeton, den Titel der Geschichte stellt. Innerhalb der Geschichte ist es Shiro, der die Vielseitigkeit des Betons bemerkt: Er rieche immer anders. Ob im Sommer, Winter, abends oder morgens. Nach dem Regen aber rieche er am besten. So befindet sich also auch der starre Beton im ständigen Wandel und offenbart viele Gesichter.
Der Zeichenstil ist wohl die größte Stärke und gleichzeitig auch die Schwäche von Tekkonkinkreet. Vielleicht schreckt er Mangaleser ab, vielleicht wirkt er dafür auf Comic- und Graphic Novel-Fans attraktiv und kann hier im Westen gerade auf diese Zielgruppe hoffen. Wie auch immer: Der Zeichenstil sollte einen nicht davon abhalten, diese erwachsene Geschichte über Wandel, soziale Auflösung, Glaube, Liebe und abgebissene Ohrläppchen kennen zu lernen. Ich bin immer noch leicht überrascht, dass Cross Cult diesen doch recht exotischen Manga hierzulande herausgebracht hat, aber auch verdammt froh – gerade über das Hardcover, das alle Bibliophile in Wallung bringen wird. Aber ganz unter uns: Die 2006er Anime-Adaption von Tekkonkinkreet find‘ ich immer noch einen Tacken besser.
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Respekt an Manga Cult für die Veröffentlichung dieses Titels. Ich hoffe, das stellt sich nicht als zu herbe Nische heraus, denn hier werden schon ganz klar ältere Semester angesprochen.