Euphoria (Staffel 1)

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erschütterte in den 80ern ganze Generationen. In den 90ern sorgte Larry Clarks Film Kids für Kontroverse. Dieser porträtiert eine zeitgenössische Jugendkultur, welche aus Partys, Drogen und Sex besteht. Zwei Jahrzehnte später hat sich daran wenig geändert, doch mit dem Aufkommen von Internet und Smartphones bewegen sich Probleme von Teenagern in neuen Dimensionen. Serien wie die Netflix-Produktion Tote Mädchen lügen nicht treffen mit ihren authentischen Themen und einer glaubhaften Darstellung den Nerv der Zeit. Doch nichts kommt an Euphoria vorbei. Die HBO-Serie machte lange vor Drehstart von sich reden und die erste einstündige Folge wurde mit Argusaugen beobachtet: Drogenmissbrauch, die Darstellung von Genitalien und sexuelle Nötigung. Ungeschönt dargestellt, gnadenlos ehrlich kommentiert und mittendrin der allseits beliebte Disney-Darling Zendaya (Spider-Man: Homecoming). Berechtigte Provokation oder kalkulierte Furore? Deutsche Zuschauer konnten die Serie bislang lediglich über Sky Atlantic HD wahrnehmen.

Rue (Zendaya) ist 17 Jahre alt. Obwohl sie gerade einen Drogenentzug hinter sich hat, kann sie Kokain und Opioiden einfach nicht abschwören. Schuld daran ist eine Reihe mentaler Erkrankungen, die schon in Kindheitstragen diagnostiziert wurden. Als die modische Jules (Hunter Schafer) in ihr Leben tritt, scheinen sich die Dinge zu verändern.
Kat (Barbie Ferreira, Divorce) leidet unter ihrem Übergewicht. Mädchen ihrer Generation werden an ihren sexuellen Erfahrungen gemessen. Ein Gebiet, auf dem Kat komplett unerfahren ist, weswegen sie unter enormen Komplexen leidet. Im Internet sucht sie nach einer erfüllenden Beziehung und driftet in ein zwielichtes Business ab, in welchem sie Kapital aus ihrer Figur schlägt ..
Ein eigentlich erfüllendes Leben führt Nate (Jacob Elordi, The Kissing Booth). Er ist sportlich, beliebt und hat seine attraktive Freundin Maddy (Alexa Demie, Mid90s). Doch er bekommt seine Aggressionen einfach nicht unter Kontrolle.

Die Verschachtelungen des Digitalzeitalters

Originaltitel Euphoria
Jahr 2019
Land USA
Episoden 8 in Staffel 1
Genre Drama
Cast Rue Bennett: Zendaya
Nate Jacobs: Jacob Elordi
Kat Hernandez: Barbie Ferreira
Jules Vaughn: Hunter Schafer
Maddy Perez: Alexa Demie

Euphoria ist DIE Skandalserie der 2010er. Basierend auf den Erlebnissen des heute 34-jährigen Ex-Junkies Sam Levinson erzählt der Serienschöpfer und Regisseur die Geschichten dreier Teenager, deren Darstellung derart explizit ist, dass in den USA das ultrakonservative Parents Television Council Sturm lief. Die „grob unverantwortliche Programmgestaltung“ verstöre junge wie alte Zuschauer. Keine Seltenheit, wenn sich ein Format einem derart verschmähten Stoff wie der Darstellung einer jungen Generation annimmt. Euphoria geht dabei keine Kompromisse ein und ist in seiner Darstellung knallhart. Levinsons Ziel: Mitgefühl für die Probleme Heranwachsender erzeugen. Denn diese Generation steht vor Herausforderungen, die nicht-digitalen Generationen zuvor vorenthalten blieben. Stalking kennen wir alle. Was ist mit Ghosting, Benching und Monkeying? Rachesex? Das Anbahnungsverhalten Jugendlicher war nie so komplex wie heute.

Entwaffende Ehrlichkeit

Die Besonderheit der Serie liegt darin, dass wir sie zwar durch die Augen von Rue erleben, dank eines Voice-Overs gleichzeitig aber auch ihre reflektierte Sicht auf die Dinge erfahren. Diese stammen aus der Zukunft und somit kennt sie also auch den Ausgang der jeweiligen Situation. Inhaltlich ist das fordernd, aber ein höchst effektiver Erzählkniff, da dies die erwachsensten Momente des Formats sind.
Das hebt die Serie auch von anderen Teenager-Serien ab: Sie ist wenig daran interessiert, eine Soap zu erzählen, sondern konzentriert sich auf die Entwicklung der einzelnen Erzählstränge. Wenig überraschend: Die Abwärtsspirale zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten. Das macht Euphoria entwaffnend und verdammt ehrlich.

Pornografie ist fester Bestandteil von Kinderzimmern

Rue ist die Stellvertreterin einer Generation, die zynisch von sich behauptet, die beste Zeit ihres Lebens gehabt zu haben, ehe eine Gebärmutter sie ungebeten ins Leben gepresst habe. Die Frage ist: Kennt diese Generation es überhaupt anders? Drogen zu beschaffen ist ein Leichtes. Doch die Verbreitung von sexuellen Inhalten war nie so schnell wie heute. Dank der hohen Smartphone-Ausbreitung kann jeder selbst zum Ersteller solchen Contents werden und gleichzeitig auch die Verbreitung übernehmen. Die Tücken der digitalen Revolution: Was einmal erstellt und verbreitet wurde, lässt sich nie wieder einfangen. Auch Kontakte ließen sich nie so schnell wie heute knüpfen, und fragwürdige Erwachsene nutzen das fehlende Selbstwertgefühl von Teenagern schamlos, aus wie sich am Erzählstrang von Kat zeigt, das nur dann einen Push erhält, wenn Männer mit Mikro-Penis sie um Unterwerfung anflehen.

Wenn mal wieder Promis wie Jennifer Lawrence gehackt werden, macht die ganze Welt einen auf: ‚Wenn ihr das nicht wollt, dann dürft ihr keine Nacktfotos mehr machen.‘ Ja, eure Generation hat sich auf Blumen und Papas Erlaubnis verlassen. Aber wir haben 2019 und Nacktfotos sind die Währung der Liebe. (Rue)

Keine Soap, sondern fragwürdiger Lifestyle

Wäre die Botschaft nicht so eindringlich, könnte man glatt meinen, Sam Levinson habe es sich zum Ziel gemacht, Game of Thrones in Sachen Brüste und Penisse zu überbieten. In einer Folge wird ein in seiner sexuellen Identität unsicherer Teenager gleich 30 Penissen in einer Umkleidekabine ausgeliefert. Das entspricht vielleicht nicht der Realität, wird in diesem Moment aber aus der Perspektive eines Menschen erzählt, für den Vergleiche mit anderen zur Einordnung des eigenen Stellenwertes dienen. Ohnehin ist das Bild vieler männlicher Figuren durch die Vermittlung pornografischer Inhalte geprägt. Da dürfen Frauen gewürgt werden und dienen nur dem Druckabbau. Wie gehen junge Mädchen damit um, insbesondere, wenn Gleichaltrige voraussetzen, dass es völlig normal sei, auf einer Party mehreren Jungen gleichzeitig einen Blowjob zu geben?

Die Komplexität der Zuneigung

Besonders viel Screentime erhält die transsexuelle Jules. In der Pilotfolge erfährt sie eine Vergewaltigung, was dafür sorgt, dass der Zuschauer sich von der ersten Sekunde an mit ihr solidarisieren kann. Ihr Erzählstrang ist der emotionalste und es fällt leicht, sich in ihre Persönlichkeit einzufühlen. Zumal sie als Neuling in der Stadt ebenso unvoreingenommen ist wie die Zuschauer. Dass ihre Transsexualität gar nicht ausgeschlachtet wird, wie sich das anbieten würde, ist neu und fühlt sich unwahrscheinlich erfrischend an. Ihre riskanten App-Dates haben nichts mit ihrer Sexualität zu tun, sondern sind Teil ihrer Familiengeschichte. Die Liebe ist komplex und wie soll ein Teenager verstehen, dass er sich zu sensiblen Mädchen ebenso hingezogen fühlt wie zu älteren Männern? Nicht viel anders ergeht es Nate, der sich neben seiner Beziehung auf Apps für schwule Männer herumtreibt. Diese differenzierte Darstellung wird bis auf die Figurenebene heruntergebrochen. So ist überraschenderweise der Dealer Fezco (Angus Cloud) eine der verantwortungsvollsten Charaktere der Geschichte.

Visuell spektaukläres Generationenporträt in Videoclip-Ästhetik

Die Serie könnte es sich wie kaum eine andere herausnehmen, ihre Coolness zu unterstreichen. Obwohl der Zuschauer am Ende der Richter ist und die Serie keinen moralischen Zeigefinger erhebt, zeugt die Erzählweise von hoher Sensibilität. Die Perspektive eines Teenanger kann auch mal Surrealität einfordern. Etwa bei einem Drogentrip oder bei den vorbeirauschenden Impressionen eines Jahrmarktes. Das wird besonders durch die visuelle Darstellung unterstrichen. Wichtige Szenen bekommen durch die richtige Ausleuchtung des Sets eine Intimität, die das Gefühl verleiht, ganz nah dabei zu sein. Vermittelt wird das in ästhetisch sehr ansprechenden Bildern und herausragende Farbkompositionen, in deren Qualität sich wieder einmal das von HBO zur Verfügung gestellte Budget wiederspiegelt. Der Soundtrack ist dabei so vielfältig wie die porträtierten Charaktere selbst, von Bronski Beat bis zu K-Pop.

Überragend gespielt

Dass Zendaya zu den talentiersten Jung-Darstellerinnen ihrer Zeit gehört, durfte sie zuletzt als M.J. Parke in Marvels Cinematic Universe unter Beweis stellen. Euphoria ist eine eindrucksvolle Visitenkarte. Ihr die Show stehlen kann da nur noch das transsexuelle US-Model Hunter Schafer, das mit einer intensiven Bildschirmpräsenz begeistert. Ebenfalls aus dem Cast sticht Barbie Ferreira hervor, deren körperbetonter Einsatz besonders viel Mut erforderte.

Fazit

Was für eine Serie! Die Handlung erwischt einen eiskalt, fängt dann aber wieder mit den richtigen Bildern und bewegenden Dialogen auf. Trotz der harten Thematik ist Euphoria behutsam erzählt und kunstvoll inszeniert. Natürlicht nutzt die Serie den Umstand aus, durch Überdramatisierung nach Aufmerksamkeit zu suchen. Weshalb sollte man diese niedrig hängen Früchte auch ignorieren? Euphoria ist keine Jugendserie, sondern eine erwachsene Serie über Jugendliche. Der achtstündige Rausch beeinhaltet eine Menge Skandalstoff, der betroffen macht und das Gefühl hinterlässt, als Erwachsener froh sein zu können, heute nicht mehr in diesem Alter zu stecken. Empfehlenswert für alle, die sich reif genug fühlen, sich der für Serienverhältnisse expliziten Aufarbeitung anzunehmen oder aber ein Update bekommen möchten, wie Spätpubertierende heute ticken.

© HBO

Ayres

Ayres ist ein richtiger Horror- & Mystery-Junkie, liebt gute Point’n’Click-Adventures und ist Fighting Games nie abgeneigt. Besonders spannend findet er Psychologie, deshalb werden in seinem Wohnzimmer regelmäßig "Die Werwölfe von Düsterwald"-Abende veranstaltet. Sein teuerstes Hobby ist das Sammeln von Steelbooks. In seinem Besitz befinden sich mehr als 100 Blu-Ray Steelbooks aus aller Welt.

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