Sandman
Vor 32 Jahren erblickte Neil Gaimans Sandman in den Regalen der lokalen Comic-Zentren das Licht der Welt. Eine Graphic Novel-Serie über den Herrn der Träume, die in den 1990ern zum Kultobjekt wurde, mehrfach den Eisner-Award absahnte und von der großen Fan-Gemeinde als »unverfilmbar« verehrt wurde – obgleich sich manche auch irgendwie nach solch einer Verfilmung sehnten. Der Streaming-Riese Netflix ist es, der diesen heimlich gehegten Wunsch im Jahre 2022 erfüllt. Jener Riese, dessen finanzierte Adaptionen zwischen »Ausgezeichnet!« (Das Damengambit) und »Mäh!« (Resident Evil) pendeln. Glücklicherweise sitzt Schöpfer Neil Gaiman selbst als ausführender Produzent mit im Boot. Gemeinsam mit den Showrunnern Allan Heinberg und David S. Goyer bringt er sein eigenes geschichtsträchtiges Kind auf die Leinwand und mit ihm eine der besten Comic-Adaptionen.
![]() ![]() |
Das Jahr 1916: Der Okkultist Sir Roderick Burgess (Charles Dance, Game of Thrones) will in einem unsäglichen Ritual Death, die Personifikation des Todes, gefangen nehmen. Doch stattdessen gerät ihm Dream (Tom Sturridge, Die Kunst des toten Mannes), der Herr der Träume, ins Fangnetz. »Besser als nix«, denkt sich Burgess. Über zwei Generationen hält er das kosmische Wesen in seinem Keller gefangen. Die Traumwelt zerfällt, Alpträume fliehen in die Wachwelt und die Menschen erliegen der Schlafkrankheit. Als Dream nach über 100 Jahren freikommt, muss er seine Habseligkeiten wiederfinden, sein Reich aufbauen und die Alpträume einfangen, die mordend über den Globus ziehen.
Band 1 und 2 von 10
![]() |
|
Originaltitel | Sandman |
Jahr | 2022 |
Land | USA |
Episoden | 11 in Staffel 1 |
Genre | Dark Fantasy, Drama |
Cast | Dream/Morpheus: Tom Sturridge Der Korinther: Boyd Holbrook Lucienne: Vivienne Acheampong Matthew, der Rabe: Patton Oswalt John Dee: David Thewlis Johanna Constantine: Jenna Coleman Lucifer Morgenstern: Gwendoline Christie Death:Kirby Howell-Baptiste Hob Gadling: Ferdinand Kingsley Rose Walker: Kyo Ra |
Veröffentlichung: 5. August 2022 |
Schon in Christopher Nolans Inception wusste man zu sagen: »Die frühen Träume sind experimentelle Kurzfilme. Die echten Blockbuster kommen erst nach fünf Stunden Schlaf.« So ungefähr kann man auch die Struktur von Sandman begreifen. Die Serie fungiert bis einschließlich Folge 6 als direkte Adaption des ersten Bandes Präludien und Notturni. Als Präludien dienen diese Folgen vor allem der Exposition. Sie erzählen von Dreams Misere, aber auch von vielen Nebenfiguren, die den Fokus zerstreuen. Sandmans Geschichte ist weitläufig und erstreckt sich über Jahrhunderte. Erst mit den letzten vier Folgen kommt der erste große Arc zum Vorschein, welcher den zweiten Band, Das Puppenhaus, abdeckt. Das Schöne ist, dass beide Strukturen ineinandergreifen und es sich für den späteren Arc als wichtig erweist, dass etwa in Folge 1 die Figur einer gewissen Unity der Schlafkrankheit zum Opfer fällt. Es gibt kaum eine Szene, die inszenatorisch und narrativ nicht wohl durchdacht wirkt. Fehlerhafte Achsensprünge und fragwürdige Story-Entscheidungen, die einem ständig die Immersion versauen (looking at you, Obi-Wan Kenobi) gibt es in Sandman nicht. Beim Sandmann kann man sich wirklich zurücklehnen, denn der Sandmann spielt in der obersten Liga.
Der MVP des Casts: Tom Sturridge
Die Serie lebt von ihrem ausgezeichneten Cast, der erheblich dazu beiträgt, dass man der Serie ihre übernatürliche Geschichte abkauft. An vorderster Front wäre da freilich Tom Sturridge, jenes unbekannte Gesicht, das mit enigmatischer, ja geradezu unwirklicher Perfektion den König der Träume darstellt. Gesegnet mit einem Top-Notch-Gefühl für Sprechrhythmik und einem Timbre so dunkel, dass man es gar nicht glauben mag, wenn man von der deutschen Tonspur hinüberwechselt. Ausgestattet mit einer Mimik, so eindringlich, dass einem bereits in Folge 1 – wenn man ihn also noch gar nicht kennt – das Herz blutet, wenn »es« passiert. Generell gibt es so gut wie keine Gurke im Cast. Gwendoline Christie (Game of Thrones) als (diesmal weiblicher) gefallener Engel Lucifer, der sich schmerzvoll nach dem Himmel sehnt, ist so imposant wie man es erwartet. Kirby Howell-Baptiste (Cruella) als sprudelnde, warmherzige Death vertreibt jede Angst vorm Sensenmann, und Boyd Holbrook (Logan) nimmt seine Aufgabe als entflohener Alptraum, der das Schlechteste der Menschen wiederspiegelt, zähnegrinsend an.
Wie schaut’s aus mit der Vorlagentreue?
Sandman entfaltet seine Wirkung durch die schauspielerische Leistung und die gesprochenen Worte, nicht jedoch durch die Action. Denn die Serie verzichtet auf jede Form von banalem Superpower-Wumms. Kein magisches Schwert wird gezogen, kein magischer Roundhouse-Kick wird vollführt. Dreams Macht wirkt auf die Umwelt ein, ja, ist aber eher eine Macht des Geistes. Sandman bleibt als Comic-Adaption dem Vorlagenmaterial äußerst treu, häufig Wort für Wort, nimmt sich freilich aber auch einige Freiheiten heraus. Das Duell in der Hölle etwa (Folge 4) findet in seiner originalen Form zwischen Dream und einem gewöhnlichen Dämon statt. In der Serie jedoch tritt Dream gegen Lucifer höchstselbst an. Das Duell-Konzept bleibt dasselbe, doch verleihen Gwendoline Christie und Tom Sturridge dem Ganzen eine völlig neue Ernsthaftigkeit. In Kombination mit der visuellen Brillanz wirkt dieses Re-Arrangement der Szene weit eindrucksvoller als das Original im Comic. Freilich gibt es noch andere Anpassungen. Dream ist kein 90er-Goth mehr, sondern einfach nur ein schlichter Typ im schwarzen Mantel – die Haarpracht knapp an der Anime-Friese vorbei frisiert – und aus dem Magier John Constantin wurde (aufgrund Copyright-Rechte) Johanna Constantin. Dem Korinther wird als Hauptbösewicht wesentlich mehr Zeit eingeräumt, was ihn zum roten Faden der Staffel macht, und auch die Motivation von John Dee, einem weiteren Antagonisten, unterlief einer Anpassung. All das geschieht auf eine Art, die etwas für die Serie tut. Die Neuinterpretation ist nicht schlechter als das, was sie ersetzen soll. Etwas, woran Adaptionen häufig scheitern, allen voran die zweite Staffel von The Witcher. Nicht aber Sandman.
Dark Fantasy für 18+
Die Umsetzung eines Graphic Novels, das visuell so erfinderisch ist wie Sandman, ist kompliziert, zumal die Liste der Comic-Künstler, die ihrerzeit Einfluss auf die Ästhetik nahmen, recht umfangreich ist. Auch in der Netflix-Adaption bleibt das exzentrische Original freilich unerreicht, doch die Serienmacher erschaffen eine treffende und durchdachte visuelle Übersetzung, die Gaimans Sensibilität treu bleibt. Eine Welt voller mythischer Archetypen und historischer Seitenhiebe, in der Kain seinen Bruder nicht vor 12 Uhr mittags umbringt und Morpheus sich aus experimenteller Neugierde alle 100 Jahre mit einem Menschen im selben Pub trifft. Sandmans Welt ist groß und viele Gegebenheiten werden nicht immer erklärt. Da dieser Welt aber das Wesen von Märchen anhaftet, stößt das nicht weiter negativ auf, denn auch die Regeln von Märchen galt es schon seit je her als gegeben hinzunehmen. Ebenfalls typisch für Märchen: ihre Brutalität. Sandman erhielt keine Jugendfreigabe. Körper explodieren, Kinder werden misshandelt und Dämonen kriechen aus den Mäulern von Profi-Fußballern. Nicht zu vergessen die »Cereal Convention«, auf der Serienmörder mit Namensschildchen auf der Brust den neusten heißen Scheiß besprechen – eine der lustigsten und gleichsam verstörendsten Szenen, die Sandman zu bieten hat.
Über Katzen und Musen: Die nachgeschobene Episode No. 11
Zwei Wochen nach Veröffentlichung der ersten Staffel brachte Netflix für die ganz angefixten Fans noch einen Bonus-Schmankerl heraus: »Der Traum der 1000 Katzen/Kalliope«. Eine Überraschungsepisode von über 60 Minuten Länge, die vorgreift und zwei Kurzgeschichten aus dem dritten Band der Sandman-Comicreihe (Traumland) umsetzt. Dabei fällt vor allem »Der Traum der 1000 Katzen« aus dem Raster, da sie voll animiert im Stile matter Ölgemälde über den Bildschirm flimmert und allein von Katzen und deren Traum einer neuen Weltordnung erzählt. Verantwortlicher für Regie und Szenenbild: Hisko Hulsing (Undone). »Kalliope« dagegen kleidet sich in üblicher realer Optik und zeigt uns einen verzweifelten Schriftsteller, der sich die griechische Muse Kalliope gefangen hält und missbraucht. Auch Lord Morpheus tritt hier als gewohnt launische Drama Queen auf und wir erfahren Neues über seine familiäre Situation. Dieser Nachzügler-Move seitens Netflix dient freilich der Publicity. Gleichzeitig bestärkt diese Episode aber auch das Gefühl, dass den Serienschöpfern tatsächlich am Inhalt der Comics gelegen ist; dass selbst eine solch abseitige Kurzgeschichte über träumende Katzen ihren Platz in der Adaption verdient hat und man auch in weiterer Zukunft auf eine loyale Umsetzung hoffen darf.
Fazit
Sandman ist dunkel, tragisch, verspielt und grotesk. Jedoch lässt sich in diesem ganzen (alp)traumhaften Spektakel auch eine emotionale Tiefe finden, die weit über das übliche »Wir brauchen mehr Money für das CGI, das muss mehr reinballern!«-Fantasy-Zeug hinausgeht. Angesichts der Vorlage auch kein Wunder. Nail Gaiman und sein Team haben es geschafft, eine äußerst gelungene und treue Comic-Adaption auf die Mattscheibe zu hieven, die Fans zufrieden stellen und Neulinge anziehen wird. Mit einem Tom Sturridge als Lead-Act, der Lord Morpheus mit traumwandlerischer Sicherheit spielt und dem ich gerne bis zum Nimmermehrstag in sein Traumreich folgen werde.
Zweite Meinung:
Sandman gestaltet sich wie Träume selbst: abwechslungsreich, überraschend und vor allem gefühlvoll. Dass wir gerade ab der ersten düsteren Episode dran bleiben, liegt nicht nur an den gewaltigen Bildern, die in ihren Bann ziehen, sondern auch an den Figuren, die unsere Neugier fest im Griff haben. Allen voran Tom Sturridge verkörpert den nicht alternden Gott als ein stures, gern auch mal undurchschaubares, aber gerechtes Wesen. Macht seine Figur Morpheus/Dream den Mund einmal auf, dann gibt es tolle Mono- oder Dialoge zu belauschen. Wer es gerne psychologisch mag, ist hier ebenso gut aufgehoben wie Freunde fantastischer Geschichten.
© Netflix