Borne

Borne – so heißt das jüngste Buch von Jeff VanderMeer, der dank der im März 2018 auf Netflix erschienenen Verfilmung seines Romans Auslöschung vielleicht nicht in aller, aber doch zumindest in vieler Munde ist. Borne zeichnet das Bild einer postapokalyptischen Stadt, die von einer profitgierigen und anstandslosen Firma in den Abgrund gewirtschaftet wurde und nun von einem haushohen, fliegenden Bären unterjocht wird. Klingt strange – ist strange. Biopunk vom Feinsten.

  

Rachel lebt in einer geschundenen und vergifteten Stadt. Als Sammlerin durchstreift sie die Ruinen auf der Suche nach Essen und anderem Verwertbaren, stets auf der Hut vor den mutierten Überbleibseln der Biotech-Firma, die sich hier niedergelassen hat – und auf der Hut vor Mord, einem mehrere Stockwerke hohen, fliegenden Bären, der die Stadt terrorisiert. Als sich Rachel eines Tages an den schlafenden Mord heranschleicht, um sein Fell nach Nützlichem abzusuchen, findet sie ein violettes, Anemonen-ähnliches Ding. Sie nimmt es mit in ihren Unterschlupf, wo sie zusammen mit ihrem Kompagnon Wick lebt, der aus Biotech-Resten Drogen herstellt. Dort hält sie sich das Ding zunächst als schmückende Zimmerpflanze, muss aber bald feststellen, dass es wächst, sich bewegt – und schließlich spricht. Sie tauft das fremdartige Wesen Borne und beginnt es großzuziehen, sehr zum Missfallen von Wick, der in Borne eine potentielle Gefahr sieht.

Akrobatik für das Gehirn

Die Welt von Borne ist eine abstruse Kulisse voller herausfordernder Ideen. Jeff VanderMeer verwischt die Genres, tobt sich auf aberwitzige Weise aus und ist damit ein prägender Vertreter der aktuellen New Weird-Strömung. Für alte Phantastik- und Sci-Fi-Hasen wird sich Borne frisch und unverbraucht anfühlen – und wie gesagt: herausfordernd. Denn Borne ist Training für die eigene Vorstellungskraft – und Training für das Ändern der Vorstellung. Es mag mehr als ein Mal passieren, dass man das Aussehen von Dingen komplett revidieren muss, weil die Worte zunächst falsch verstanden oder zu fahrlässig überflogen wurden und man sich bei der Interpretation erst einmal bekannter Schablonen bedient. Bei Mord zum Beispiel: Es mag den einen oder anderen geben (mich), der zunächst nicht checkt, dass die Beschreibungen, die er da gerade liest, Mord zu einem Bären machen, der größer als ein Haus ist und zudem fliegen kann.

Der Mensch in Beziehung zum Fremden

Originaltitel Borne
Ursprungsland USA
Jahr 2017
Typ Roman
Bände 1
Genre Science-Fiction, Mystery
Autor Jeff VanderMeer
Verlag Kunstmann

Die namenlose Stadt, in der Rachel lebt, gibt viele Fragen und Wunder auf. Füchse, die einen mit menschlichen Augen verfolgen; eine ominöse Magierin, die allmächtig zu sein scheint und Heerscharen von Mutanten-Kindern befehligt; tote Astronauten, die bis zum Bauch in die Erde gepfropft wurden und von denen keiner so richtig weiß, ob sie nur traurige Mahnmale oder absichtlich aufgestellte Fallen sind. Trotzdem liegt der Schwerpunkt der Geschichte woanders, und zwar im komplizierten und fragilen Verhältnis zwischen Wick, Rachel und Borne.
Man könnte sagen, dass Borne eine Art Coming-of-age-Story eines undefinierbaren Wesens ist und zusätzlich eine speziesübergreifende Caretaker-Beziehung thematisiert – jene zwischen Rachel und Borne. Die Liebe zwischen den beiden ist zunächst rein familiär, wird mit der Zeit aber komplexer und undefinierbarer. Es geht um Identität und Entwicklung – und Transformation wird als wesentlicher Bestandteil davon verstanden.
Es ist ein Thema, das auch VanderMeers Southern Reach-Trilogie zugrunde liegt: Der Brückenschlag zwischen Mensch und Nichtmensch. Eine Verbindung, die beide Teile verändert – sie in eine Metamorphose zwingt, Angst macht, Furcht weckt… und doch der einzige Weg ist um zu überleben. Bei der Southern Reach-Trilogie ist diese Verschmelzung wesentlich größer thematisiert und befremdlicher und fürchterlicher; die Geschichte nur schwer kategorisierbar.

Biopunk in drei Akten

Borne dagegen wirkt – allen Abstrusitäten zum Trotz – schon beinahe konventionell. Die Geschichte entwickelt sich zu einer klassischen Story in drei Akten: Frau findet Wesen, Frau zieht Wesen groß mit anschließendem Eklat, Frau löst den Konflikt. Der dritte Akt fällt dabei etwas ab, da hier Borne an Präsenz einbüßt. Stattdessen ist alles auf Abgang programmiert: Chaos, Defätismus, Flucht. Das liest sich leicht gestreckt, sodass VanderMeer die Spannungskurve nicht halten kann. Das Ende wirkt ungewohnt gefällig und man fragt sich, wo ist der unfassbare VanderMeer geblieben ist.

Ich bin ein großer Fan von VanderMeers Southern Reach-Trilogie und hab’ gehofft, dass mich Borne ähnlich packen kann. Leider hat der Titel es nicht geschafft. Die Spannungskurve kann im dritten Akt nicht gehalten werden, der Plot ist wesentlich konventioneller als Southern Reach und das Honigkuchen-Ende irritiert (sowie auch manche Antworten bezüglich Borne und der Firma). Dafür erweitert VanderMeer das Genre der postapokalyptischen Literatur, bringt frischen Wind rein und sprengt kreativ die Grenzen. Außerdem ist die Konstellation Rachel/Borne ‘ne groteske, berührende und absolut interessant zu lesende Sozialstudie. VanderMeer ist und bleibt ein außergewöhnlicher Erzähler. Alles in allem ist Borne also eine lohnende Lektüre.

Totman Gehend

Totman ist Musiker, zockt in der Freizeit bevorzugt Indie-Games, Taktik-Shooter oder ganz was anderes und sammelt schöne Bücher. Größtes Laster: Red Bull. Lieblingsplatz im Netz: der 24/7 Music-Stream von Cryo Chamber auf YouTube.

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MadameMelli
Redakteur
28. März 2018 12:29

Von dem Autor möchte ich schon länger etwas lesen – und auch wenn du mit dem Ende nicht wirklich begeistert werden konntest, wird Borne wahrscheinlich der erste Titel, zu dem ich greifen werde. An die Southern Reach-Trilogie trau ich mich noch nicht heran!